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Radfernfahrt München - Gibraltar

Michael Wiegand & Matthias Gehmlich (Herbst 1999)

3000 km in 19 Tagen

Ein sonniger Septembertag steht uns bevor, als Michael und ich das Münchner Stadtgebiet verlassen. Wir verabredeten uns mit Manfred in Haar und fahren gemeinsam weiter über Bad Tölz und Jachenau nach Mittenwald. Recht viele Leute bevölkern an diesem Sonntagmittag die Innenstadt des bekannten oberbayerischen Städtchens. Das Café Haller haben wir für eine Pause auserwählt. Inzwischen sorgt der Föhn für angenehme Temperaturen. Wir brechen gerade auf, als sich ein vollbesetzter Reisebus mit Kronacher Kennzeichen nähert. Die Verabschiedung von Manfred ist kurz und herzlich: "Gute Fahrt!" Er fährt zurück nach München, während Michael und ich die Leutascher Hochebene erreichen, deren idyllische ruhige Ausstrahlung wir für kurze Zeit genießen. Vom Bucher Sattel ist das Inntal wie eine Miniaturlandschaft zu überblicken. Es geht weiter über Telfs nach Landeck und Pfunds, wobei wir mit einem heftigen Gegenwind zu kämpfen haben.

Am nächsten Morgen weht immer noch dieser starke Wind, mit 18°C ist es ungewöhnlich mild. Es wird bestimmt regnen; das meint auch unsere Wirtin. - In der Tat, nachdem wir die Grenze zur Schweiz passiert haben, setzt anhaltender Regen ein. Die Nässe dringt durch sämtliche Kleidungsstücke und wir beginnen rasch zu frieren. Nach etwa 40 Kilometer teile ich Michael mit, dass wir in Zernez eine Entscheidung über den weiteren Verlauf treffen sollten. Wir durchfahren das an diesem Montagvormittag trostlos wirkende Susch und erreichen wenig später Zernez (1.473 m). Der Regen hält unverändert stark an, ich zittere vor Kälte. Sehr schnell entscheiden wir uns die Etappe abzubrechen und ein Quartier zu nehmen. Es macht einfach keinen Sinn weiterzufahren.

Nach einer heißen Dusche gehen wir um 12.00 Uhr mittags mit geliehenen Regenschirmen in Zernez spazieren - wer hätte das gedacht! Mein Plan, die Alpenüberquerung im Handstreich zu nehmen, ist gründlich daneben gegangen. Wir sitzen fest, wie Bergsteiger im Basislager, die auf besseres Wetter für die Gipfelbesteigung warten. Auch am Nachmittag regnet es Bindfäden. Schon zum zweiten Mal steuern wir mit unseren Billigschirmen das kleine Café im Ort an, in dem sich ein paar ältere Gäste zum Kaffeekränzchen versammelt haben. Michaels Plastiktüten in seinen Schuhen rascheln, als wir unsere Wahl am Kuchenbüfett treffen. Die Gesichter der älteren Damen sprechen Bände... Montagnachmittag im verregneten Zernez. "Kachelmanns" Wetterbericht in einem Schweizer Boulevardblatt ist so allgemein, dass dieser für mindestens 100 Tage im Jahr zutreffen würde. Auch gegen Abend keine Änderung der Wetterlage. In der einbrechenden Dämmerung wirkt Zernez wie ausgestorben. Immer wieder zähle ich die Schläge der nahen Kirchturmuhr zur vollen Stunde: 9,10,11,12...

Trockene Straßen am nächsten Morgen! Die umliegenden Berge sind mit einer weißen Puderhaube überzogen. Es ist sehr frisch als wir aufbrechen, aber bald durchdringen immer kräftiger werdende Sonnenstrahlen den Morgennebel und auch die stetig steigende Straße wärmt uns auf. Wir begleiten immer noch den Inn, der praktisch über Nacht zu einem reißenden Strom mit braunen schmutzigen Schlammwasser geworden ist. Von St. Moritz bis zum Malojapass führt die Straße durch eine wunderschöne Hochebene, um dann - fast unvermittelt - in eine steile Serpentinenabfahrt zu fallen. Mit über 70 km/h donnern wir durch einen Tunnel, passieren ohne Halt den italienischen Zoll und machen erst in der wärmenden Mittagssonne von Chiavenna eine kurze Rast. In Varenna am Comer See warten wir auf die Fähre nach Bellágio. Das Wasser, die Berge, die umliegenden Ortschaften am Ufer, die Schönwetterwolken, es ist, als ob während der Fährüberfahrt die Grenzen von Traum und Wirklichkeit verwischt würden.

In Bellágio wählen wir die bis zu 14%ige Steigung zur Wallfahrtskapelle Madonna del Ghisallo. Die Straße ist wenig frequentiert, wir genießen die Ruhe hier oben und werden mit prachtvollen Aussichten auf den Comer See belohnt. Am höchsten Punkt dieser Straße erreichen wir die Kapelle. Madonna del Ghisallo ist eine kleine schmucke Kirche mit gepflegten Außenanlagen. Auf dem Platz vor der Kapelle befinden sich Bänke, auf denen gerade einige Radler kurz rasten. Alljährlich führt die Lombardei-Rundfahrt hier vorbei, die Markierung für die Bergwertung ist unübersehbar. Eine Büste von Radsportlegende Fausto Coppi, sowie ein Denkmal, welches einen siegreichen und einen gestürzten Rennfahrer darstellt, umgeben den Haupteingang der kleinen Kirche. Ehrfürchtig treten wir ein. Neben der zentralen Madonnafigur sind Dutzende Renntrikots zu sehen: Alte Baumwolltrikots von Fausto Coppi, Regenbogentrikots von Eddy Merckx und gelbe Trikots von Michel Indurain. Oberhalb dieser Trikots sind an den Seitenwänden Rennräder aufgestellt: Von Eddy Merckx, Fausto Coppi, Gianni Motta, eine Zeitfahrmaschine von Francesco Moser und das Rad von Fabio Casartelli, er verunglückte bei der Tour de France am 18. Juli 1995 tödlich. Kerzen brennen.

Eine reine Pflichtaufgabe steht am nächsten Tag auf unserem Programm: 185 km durch die Po-Ebene. Wir rollen über Asti nach Alba, was zu unserer Überraschung eine sehenswerte Altstadt besitzt und bummeln durch die Gassen der Kleinstadt. Ein Schild vor einem Restaurant sagt aus, dass ab 19.30 Uhr geöffnet ist. Um 19.25 Uhr machen wir uns an der noch verschlossenen Tür bemerkbar. Einen Moment später wird uns vom Wirt Einlass geboten. - Italienische Pünktlichkeit

Sehr früh werden wir am darauffolgenden Tag geweckt. Autos kurven auf dem Parkplatz vor unserer Pension herum, Stände werden aufgestellt, Kleintransporter fahren automatische Markisen aus, Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände werden ausgepackt - es ist Markttag in Alba. Eine kleine Bar am Marktplatz ist schon gegen 07.00 Uhr überfüllt. Einige Marktarbeiter haben bereits den Hauptteil ihrer Arbeit erledigt und trinken Kaffee. Wir hingegen ordern neben Kaffee vollgeladene Teller mit Kuchen und Hörnchen. Wenig später rollen wir über ruhige hügelige Straßen mit teils prächtigen Aussichten nach Ceva. Von hier benutzen wir die idyllische Talstraße bis Ormea, überqueren einen Pass und nähern uns in rauschender Fahrt Imperia am Mittelmeer! Teilweise ist unsere Straße großzügig begradigt und führt durch Tunnel und über Brücken. Schon bald spüren wir die typisch feuchtwarme Seeluft. In Imperia folgen wir unverzüglich der Ausschilderung nach San Remo. Gummibäume wuchern üppig am Rande der Küstenstraße, unzählige Gewächshäuser sind zu sehen. Unverkennbar ist der Abzweig zum Poggio zu erkennen, dem letzten Hügel des Frühjahrsklassikers Mailand-San Remo. Erik Zabels Aussage, dass dieses Rennen das schönste der Saison ist, können wir bestätigen! - Wir fahren direkt nach San Remo und weiter zu unserem heutigen Tagesziel Menton in Frankreich. Ein prachtvolles Städtchen im Charme der guten alten Zeit. Am Eingang des Hotels "Richelieu" lächelt uns freundlich ein kleiner älterer Herr an, als ob er auf uns gewartet hätte. Er ist Angestellter des Hotels und bietet uns ein anständiges Zimmer an. Die Räder dürfen wir mit hinein nehmen. Er sagt uns, dass er immer dieses Zimmer an Radler vergeben würde.

Während ich tagsüber für die Einhaltung unserer Fahrstrecke und Bekanntgabe von Besonderheiten verantwortlich bin, übernimmt Michael mit Erreichen des Etappenortes die Rolle des "Reiseleiters". Michaels Frau Annie ist gebürtige Französin, so liegt es nahe, dass auch Michael fließend Französisch spricht. Er versteht es außerdem ausgezeichnet seine Kenntnisse über Frankreich an mich weiterzugeben und findet darüber hinaus immer ein interessantes Gesprächsthema. Keine Frage, wir harmonieren gut in dieser wechselseitigen Rollenverteilung.

Am nächsten Tag erwarten uns bei herrlichem Sonnenschein bekannte Küstenstädte der französischen Côte d' Azur: Monaco, Nizza, Cannes, Saint Raphael und Saint Tropez. Hier steuern wir das Hafengelände an. Michael überquert vor mir eine Kreuzung; ich muss warten und den Querverkehr passieren lassen. Danach fahre ich ungeachtet der Ampelsignale über die Kreuzung, um Michael nicht aus den Augen zu verlieren. Im selben Moment ertönt hinter mir ein Martinshorn, mit Blaulicht stoppt mich ein Polizeiwagen. Der Gendarm von St. Tropez hält mir in eindringlichen Befehlston die Missachtung der Lichtsignalanlage vor. Wortlos akzeptiere ich sein Statement und darf meine Fahrt fortsetzen. Gerade noch einmal gut gegangen, da hätte ich durchaus auch ein Strafgeld zahlen können; aber schon habe ich das nächste Problem: Wo ist Michael? Ich kurve auf dem riesigen Parkplatz im Hafenbereich herum, fahre dann zum Marktplatz, wo ich das Gendarmerie-Gebäude - bekannt geworden durch den Spielfilm: "Der Gendarm von St. Tropez" mit Louis de Funès - erkenne. Durch wunderschöne alte Gassen rolle ich erneut zum Hafen, wo ich Michael wieder treffe. Buntes Treiben herrscht hier am Wasser; Künstler bieten zur Schau gestellte Gemälde an, unzählige Touristen bevölkern die zahlreichen Geschäfte und Cafés. Boote, kleine einfache und größere Luxusyachten liegen am Kai. Wir folgen weiter der reizvollen Küstenstraße bis la Lavandou und fahren durch Toulon und Marseille, dem größten französischen Handelshafen. In Istres machen wir Quartier und bummeln am Samstagabend durch das beschauliche Städtchen. Im Zentrum wird gerade der Markttag beendet: Kleider, Anzüge, Pullover, Souvenirs, Uhren, Schmuck, Porzellan und Küchenutensilien verpacken die Händler in ihre Kleintransporter. Mit Interesse beobachten wir diese "Aufräumungsarbeiten" und nehmen vor einer Pizzeria an einem Tisch unter hohen schattigen Platanen auf dem sehr breiten Bürgersteig Platz. Wir fühlen uns wohl, auch als wenig später eine Kehrmaschine die nun freigewordene Straße von letzten Überresten des Markttages befreit. Danach parken wieder Autos am Straßenrand, auch die Tische neben uns werden mit Einbruch der Dunkelheit besetzt.

Sonntagmorgen: Es ist sehr ruhig auf den Straßen des Industriegebietes westlich von Istres. Wir benutzen eine Fähre über die Rhône und durchqueren das flache Delta des wasserreichsten französischen Flusses. Perpignan lassen wir rechts liegen und folgen der Steilküste Richtung Spanien. Die kurvenreiche Straße steigt mehrmals bis zu 200m über dem Meeresspiegel an, während die Eisenbahntrasse geradlinig durch Tunnel verläuft. Auf engstem Raum befinden sich umfangreiche Gleisanlagen, um die Züge für die spanische Breitspur von 1.668mm umzurüsten. Wir genießen den besonders reizvollen Küstenabschnitt von Sant Feliu de Guixols bis Lloret de Mar. Dann wird das Land flacher, der Verkehr nimmt zu - nur noch wenige Kilometer bis Barcelona, es ist der 10.Tag unserer Tour.

Am späten Nachmittag erreichen wir das Zentrum der Millionenstadt. Blechkolonnen wälzen sich auf bis zu sechs Fahrspuren in Einbahnstraßen durch die Innenstadt. Der Verkehr rollt geordnet, keinesfalls chaotisch. An den riesigen Kreuzungen hat man beim Umschalten der Ampeln auf Grün den Eindruck, als ob sich ein Panzerregiment in Bewegung setzt. Einmal benutzen wir eine Radspur, die auf der linken Seite einer Einbahnstraße verläuft. Immer wieder stoppen

Lichtsignalanlagen unser Vorwärtskommen. Barcelona ist ein Hexenkessel und wir mittendrin. Eine große Kreuzung passiere ich gerade noch bei Gelb, Michael muss aber warten. Ich schaue mich um und halte ca. 200 m danach an. Nun fährt Michael über diesen Knotenpunkt, hält auf dem Grünstreifen mitten auf der Kreuzung an und winkt mich zurück, ja es ist unverkennbar, Michael winkt mich zurück. Ich wende und fahre auf dem Bürgersteig langsam zurück, dabei wird unser Blickkontakt unterbrochen. Wenig später befinde ich mich an der Stelle, wo sich Michael eben noch befunden hat. Ich halte nach ihm Ausschau, kann ihn aber nicht entdecken. So angestrengt ich auch meine Blicke kreisen lasse, Michael ist wie vom Erdboden verschluckt. Wie angewurzelt warte ich etwa fünf Minuten. Nichts passiert. Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus. Michael ist verschwunden und das ausgerechnet im Hexenkessel Barcelona - es ist unfassbar! Was soll ich jetzt nur machen? Verzweifelt schwinge ich mich wieder auf mein Rad und fahre langsam weiter. Nichts haben wir verabredet, nicht einmal einen Ort für ein Quartier am Abend, rein gar nichts.

Es kann sich jeder vorstellen, dass die Chancen Michael wieder zutreffen verschwindend gering sind. Die einzige Möglichkeit ist Michaels Frau Annie in Neu-Isenburg telefonisch eine Nachricht zu hinterlassen - nach angemessener Zeit versteht sich. Ich sollte vielleicht erst ein Hotel suchen und dann meinen Standort Annie mitteilen. Ja, das werde ich tun. Das günstigste ist am Rande von Barcelona ein Hotel suchen.

Wo kann nur Michael sein? Unser letztes Gespräch ging um die Kathedrale. Ich fragte Michael, ob wir zur Kathedrale fahren. Ja, war seine Antwort, die sollten wir uns unbedingt anschauen. Michael könnte also zur Kathedrale gefahren sein und dort auf mich warten. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Er muss dort sein! - Ich frage Passanten nach der Kathedrale: Ein älterer Herr versucht angestrengt mit seiner Lesebrille meine Karte zu studieren. Seine Antworten werfen aber mehr Fragen als Antworten auf. In einem vollklimatisierten Radsportgeschäft erhalte ich schließlich den entscheidenden Hinweis: Unweit des "Paca de Catalunya" mitten in der Fußgängerzone. Nachdem ich mich durch Autokolonnen und Scharen von Fußgängern gekämpft habe, erreiche ich diesen Platz und kann es kaum erwarten den Haupteingang der Kathedrale zu sehen. Michael wird sich bestimmt davor postiert haben! Ich kurve zwischen den vielen Menschen zum Portal des Gotteshauses und suche Michaels Rad. - Aber so sehr ich mich auch umschaue, Michael ist nicht hier. Ich fahre um die Kathedrale herum, um erneut den Haupteingang genau zu beobachten. Nein, Michael ist nicht hier. Enttäuscht gehe ich zu den Souvenirgeschäften, die sich an der großräumig angelegten Fußgängerzone gegenüber des im gotischem Stil errichteten Bauwerkes befinden.

Es ist genau 18.00 Uhr, die Zeit läuft mir davon, sollte ich mir vielleicht jetzt doch allein ein Hotel suchen? Fragen über Fragen. Ich entscheide mich erst einmal dafür zwei Dosen Kola zu kaufen. Während ich diese trinke, schaue ich mir die zahlreich aufgestellten Ständer voller Ansichtskarten an. Wenn schon alles schief geht, sollte ich mir wenigstens eine Karte von Barcelona kaufen, denke ich. Meist groß abgebildet ist die Kathedrale, vor der ich stehe. Aber was ist das? Es ist noch eine andere Kathedrale auf vielen Karten abgebildet, leider finde ich auf der Rückseite dieser Karten keine Erläuterung dafür. Kurz entschlossen mache ich einen deutschen Touristen ausfindig und frage nach dieser Kathedrale. Ich erhalte ausführliche Informationen: Es handelt sich um die "La Sagrada Familia" von dem spanischen Architekten Antonio Gaudi, er lebte Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts und entwickelte einen durch plastische Formen ausgeprägten Baustil. Die "La Sagrada Familia" sollte man unbedingt sehen, das Bauwerk ist noch nicht vollendet und kann bis 19.00 Uhr besichtigt werden. Gut, jetzt brauche ich nur noch zu wissen, wo sich Gaudis Meisterwerk befindet. Der perfekt ausgerüstete Urlauber zaubert einen Stadtplan hervor. Ich präge mir die Richtung ein und habe es plötzlich furchtbar eilig. Es ist die letzte Chance Michael zu finden! Ich stürze mich in den abendlichen Berufsverkehr und komme gut voran, allerdings muss ich mich noch einmal nach dem Weg vergewissern und frage ganz einfach nach der "Unfinished Cathedral". Noch eine Querstraße und dann rechts, erhalte ich zur Antwort. - Na bitte, man versteht mich! - Hoffentlich habe ich nicht zu viel Zeit verloren. Wartet Michael hier auf mich? 18.25 Uhr. Am Haupteingang von "La Sagrada Familia" sehe ich einige Besucher. Das sandfarbene Mauerwerk, angestrahlt durch die Abendsonne, hebt sich kontrastvoll vom tiefblauen Himmel ab. Aus einiger Entfernung fotografiere ich die Türme des einmaligen Bauwerkes, jedoch erweist es sich als schwierig die gesamte Kathedrale im Bild festzuhalten. Es ist 18.30 Uhr und ich nähere mich erneut dem Haupteingang. Mehrere Leute gehen hinein. Ich bewundere die vier sehr schlanken Türme, von denen je zwei eine Einheit bilden. Hinter den Türmen stehen riesige Baukräne, die Seitenflügel sind teilweise noch eingerüstet. Das Portal hat eine Art Vordach, darunter befinden sich Skulpturen, die den Blick auf sich ziehen. "La Sagrada Familia" - eine faszinierende Kathedrale des 20. Jahrhunderts! Während ich dieses Wahrzeichen Barcelonas betrachte, kommt mir, von der anderen Seite der Straße aus einer Telefonzelle, Michael entgegen. - Wir atmen tief durch und stärken uns erst einmal in einem Fastfood-Restaurant!

Die Freude über unser Wiedersehen hält aber nur kurz an, denn es entsteht sofort das nächste Problem, der Kampf gegen die einsetzende Dunkelheit. Außerdem erkennen wir schnell, dass alle Ausfallstraßen aus Barcelona als Autobahnen ausgebaut sind. Wir haben keine andere Wahl und rollen auf einer "Autovia" Richtung Flughafen. Ein Vorort von Barcelona scheint uns für ein Quartier günstig. Wir folgen der Ausschilderung nach "El Prat de Llobregat". Es ist schon fast dunkel, als wir diesen Ort erreichen. Die kleinen Schilder, von denen wir gewohnt sind, dass diese auf Sehenswürdigkeiten und Hotels hinweisen, zeigen hier nur Symbole mit rauchenden Schornsteinen. Wir befinden uns also mitten in einem Industriegebiet. Dennoch muss es doch irgendwo ein Hotel geben? Michael fragt einen Taxifahrer. Hotel "Alfa" ist dessen Antwort. Wir müssen noch mehrmals fragen, bevor wir den Weg zu diesem Hotel finden. Nachdem Michael sich in dem exklusiven Haus nach den Preisen erkundigt hat, lehnen wir dankend ab, erhalten aber als Information, dass es in Castelldefels mehrere günstigere Hotels gibt.

Wir montieren rotblinkende Rücklichter und tauchen wieder ein in den fließenden Abendverkehr auf der "Autovia". Unser Vorgehen ist schon ein wenig waghalsig, aber es gibt keine Alternative. Gegen 21.00 Uhr verlassen wir die Autobahn und erreichen Castelldefels. Mehrere Hotels, darunter auch wieder ein "Nobelschuppen" sind "Kompleto". Die Quartiersuche spitzt sich beängstigend zu. Man sagt uns, es sei deshalb alles voll, weil am nächsten Tag in Barcelona ein Fußballspiel stattfindet. Wir fahren die Küstenstraße auf und ab, als letzte Hoffnung erhalte ich in einem Restaurant von einem Kellner eine Visitenkarte eines Hotels. Wir beschließen dorthin zu fahren, ca. 100 Hausnummern auf der Strandpromenade zurück. Auf dem Weg dorthin fragen wir noch mehrmals in Hotels, aber immer ohne Erfolg. Ich warte jetzt schon immer auf der Straße, bis Michael kopfschüttelnd wieder herauskommt. Es ist 22.00 Uhr und ich will schon zum nächsten Hotel vorrücken, als Michael mit der Erfolgsnachricht zu mir eilt: "Wir haben ein Zimmer!" - Jetzt geht alles blitzschnell; Radlsachen waschen, Duschen und gegen 23.00 Uhr nehmen wir im Restaurant nebenan Platz. Im Fernsehgerät gleich neben dem Eingang ist Fußball zu sehen: Bayern München - FC Valencia. Als der Wirt uns bedient und wir ihm sagen, dass wir vor zehn Tagen in München gestartet sind, nennt er uns spontan das Resultat des Spiels und hält dabei beide Daumen nach oben: 1:1. Wir erfahren auch, dass Jan Ullrich die Vuelta gewonnen hat, dazu präsentiert uns der freundliche Wirt ein ganzseitiges Foto aus einer spanischen Sportzeitung. Ein unvergessener am Ende erfolgreicher Tag geht zu Ende.

Dunst hält sich über dem Meer, die kahlen Felsen an der Küste liegen im morgendlichen Sonnenschein. Barcelona liegt hinter uns, ein neues Abenteuer auf der Straße nach Süden vor uns. - Zunächst gilt unser Interesse einem Supermarkt der Kette "Caprabo", ein riesiger moderner Markt mit futuristischen Einkaufswagen. Wir stellen unsere Räder innen ab, aber ein uniformierter Sicherheitsbeamter hat offenbar etwas dagegen, er meint, Öl könne herabtropfen. Da unsere Ketten seit Tagen keinen Tropfen Öl gesehen haben, ist diese Befürchtung also unbegründet. Michael kann dann auch den dienstbeflissenen Angestellten zum Verbleib unserer Räder überreden. In Sant Carles an der Ebro-Mündung finden wir im Apart-Hotel "La Rapita" Quartier. Wir genießen am Swimmingpool die späte Nachmittagssonne und es scheint so, als ob jetzt der "gemütliche Teil" unserer Tour beginnen würde. Wir bummeln durch den kleinen Küstenort. Reges Treiben herrscht auf der Hauptstraße des Ortes am frühen Abend. Erst gegen 20.30 Uhr wird im Fischrestaurant "Miami" Abendessen serviert. In dem stilvoll eingerichteten Gastraum verzehren wir ein vorzügliches Menü. Außer uns haben nur noch wenige Gäste Platz genommen, wahrscheinlich deshalb, weil die Menschen überall an den Fernsehgeräten vom Fußballspiel FC Barcelona - Arsenal London in Bann gezogen werden.

Wir fädeln am nächsten Tag wieder in die Hauptstraße N 340 ein. Oft werden die verbleibenden Kilometer bis Valencia angezeigt. Ich sehe bald nur noch Valencia-Schilder. Die Straße verwandelt sich auch wieder in eine " Autovia" und endet mitten im Zentrum der drittgrößten spanischen Stadt. Wir beschließen an der Küste südlich von Valencia ein Hotel zu suchen. Schnell werden aber bei uns Erinnerungen an Castelldefels wach, als wir mehrmals ausgebuchte Häuser vorfinden. Uns wird gesagt, in Valencia sei eine Möbelausstellung. - Wiederholt müssen wir feststellen, dass es ungünstig ist in unmittelbarer Nähe von Großstädten Quartier zu machen. Wir finden schließlich in Cullera ein einfaches Hostal und gleich nebenan ein Radsportgeschäft, dessen Inhaber 1980 und 1981 an der Tour de France teilgenommen hat! Señor Guzman erweist sich als Könner seines Faches, als er an Michaels Rad einen Bowdenzug austauscht. Michael schaut dabei zu, als ob der Meister seinem Rad mit magischen Kräften neues Leben einhaucht. Wir spüren die Gastfreundschaft, die uns der Tour de France-Teilnehmer am späten Abend entgegen bringt, denn sein Service ist kostenlos! Vielen Dank Señor Guzman!

Mit guter Laune und frisch geölten Ketten fahren wir weiter der aufgehenden Sonne entgegen. Wir befinden uns an der Costa Blanca, sehen den Felsen von Calp und fahren nach Alicante. Die Quartiersuche gestaltet sich heute als Idealfall. Südlich von Alicante, in Santa Pola fahren wir direkt zur Strandpromenade, fragen in einem Hotel und beziehen ein paar Minuten später ein schönes Zimmer mit Balkon zur Strandseite. Die frischgewaschenen Radlkleider trocknen in der Abendsonne.

Weiter geht's über Cartagena, einer größeren Industrie- und Hafenstadt nach Mazarrón. Hier kommen also die Tomaten her, die im Winter in Deutschland angeboten werden. In riesigen mit Spannnetzen abgedeckten Plantagen mit künstlicher Bewässerung erzielen die Landwirte hier bis zu fünf Ernten im Jahr. Nach Águilas erreichen wir schon Andalusien und haben anschließend

einen längeren Abschnitt im Landesinneren zu bewältigen. Hier wird es zunehmend heißer und die Straße steigt bis über 400m über dem Meer. Die Berge zur Küstenseite sind über 1.400 m hoch, die landeinwärts über 2.000 m. Die Straße führt leicht wellig schnurgerade dahin. Das Land ist ausgetrocknet, dennoch spenden Bäume am Straßenrand etwas Schatten. In einem der wenigen kleinen Dörfer hier oben bietet ein Hostal seine Dienstleistungen in vier Sprachen an; die logische Übersetzung des Besitzers ins Deutsche lautet: "Zimmers". Als wir in die Hauptstraße nach Almeria einbiegen, weht uns ein sehr starker kühler Wind vom Meer entgegen, somit hält sich unsere Freude an der abschüssigen Straße in Grenzen. Wir beschließen kurz nach Almeria Quartier zu machen. Wir finden ein einzeln stehendes ausgezeichnetes Hotel mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten. Michael, er findet bei jedem Abendessen unendlich viel Gesprächsstoff, ist ausschließlich mit dem Essen beschäftigt. Kein Wunder, denn auf durch eine Stufe erhöht abgetrennten Büfettbereich werden Köstlichkeiten angeboten, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen...

Am Morgen ist auf demselben Büfett ein Top-Frühstück angerichtet. Wir blicken aus dem Fenster, ein winziges Fischerboot treibt im ruhigen Meer. Der feuerrote Sonnenball erhebt sich erst zögernd dann rascher am Horizont empor, eine Schneise gleißender Strahlen belebt die fast regungslose See. Wir haben die Costa del Sol erreicht, die N 340 ist zunächst für einen flachen geradlinigen Teilabschnitt als "Autovia" ausgebaut, es soll auch eine Alternative dazu geben, aber wir benutzen... ja ihr wisst schon. Später sehen wir immer wieder Abschnitte der verlassenen alten Straße, die sich schmal und kurvenreich an der Steilküste entlangschlängelte. Die alten Brücken machen einen sehr soliden Eindruck, als ob sie gestern noch befahren wurden. Die Vegetation an der Küste ist mannigfaltig, allerdings weisen die ausgetrockneten Flusstäler auf die Trockenheit im Landesinneren hin. Wir machen in Torre del Mar Station, von hier sind es nur noch 30 km bis Málaga. Der Strand hier ist sehr sauber und gepflegt, die Uferpromenade lädt zum Bummeln ein. Den gepflegten Rasen umgeben Palmen, Gummibäume und blühende Ziersträucher. Mittendrin spielen einige Männer Boccia, ein Kugelwurfspiel, dass in Frankreich, Italien und Spanien populär ist. Auch hier sehen wir - wie schon in allen anderen spanischen Städten - die Verkaufsstände der staatlichen spanischen Blindenlotterie "ONCE". "ONCE" ist Sponsor für ein Radprofiteam, deren Spitzenfahrer in diesem Jahr der Spanier Abraham Olano ist. Am Abend essen wir bei einem Italiener, dessen Inhaber Deutsch spricht. Wir werden erstklassig bewirtet und bekommen als Abschluss jeder ein Glas Wein spendiert. Auch hier stellen wir fest: Nachsaisongäste sitzen in der 1. Reihe!

Am nächsten Tag machen wir die Erfahrung, wie wichtig es ist die richtigen Leute nach dem Weg zu fragen! Nachdem wir uns in einem gemütlichen Café in der Fußgängerzone von Málaga gestärkt haben, suchen wir die Ausfallstraße nach Coin. Es gelingt uns nicht auf Anhieb. Erst von einer Frau, die mit ihrem Kind im Auto unterwegs ist, erhalten wir exakte Informationen. Taxifahrer und Kraftfahrer allgemein sind die richtigen Ansprechpartner, besonders wenn man der Landessprache nicht mächtig ist. In Coin stoppen wir vor einem gutausgestatteten Radsportgeschäft; Michael lässt sich neue Bereifung montieren. Danach fahren wir die A 366 Richtung Ronda, eine kurvenreiche ruhige stetig ansteigende Straße, die durch teils verschlafene Ortschaften führt. Die weiß angestrichenen Häuser prägen den typischen Charakter andalusischer Bergdörfer. Schließlich erreichen wir, von bizarren Felsformationen umgeben, eine Passhöhe von 1190 m und rollen der bereits tiefstehenden Abendsonne entgegen. Ich bin überrascht, dass es in dieser Höhe eine Eisenbahntrasse gibt, die, wie ich später herausfinde, zum Hafen nach Algeciras führt. Das Gleis verläuft parallel zur Straße bis ins Zentrum von Ronda (740 m), eine der ältesten spanischen Städte. Berühmt ist Ronda durch die 90 m tiefe Schlucht, die der Rio Guadalerin mitten durch die Stadt gegraben hat. Die Brücke, welche diese enge Schlucht überspannt, wurde 1793 erbaut. Richtung Westen öffnet sich die Schlucht zu einem riesigen Tal, worauf man eine prächtige Aussicht hat.

Wir verlassen Ronda auf der A 369 und klettern noch einmal auf eine Passhöhe von 1000 m. Es ist frisch an diesem Morgen, aber die Ruhe und Abgeschiedenheit der Berge bieten Erholung pur. Uns beeindrucken die künstlerisch gestalteten Ortseingangsschilder; mit handwerklichem Geschick gefertigte farbige Fliesenmosaike zeigen Besonderheiten der jeweiligen Orte. - Je weiter wir uns der Küste nähern, desto dichter wird der Verkehr. Wir fädeln wieder in die altbekannte N 340 Richtung Cádiz ein, auf der wir noch ca. 30 km bis Tarifa, der südlichsten Stadt Europas zu absolvieren haben. Letztmalig gilt es einen Pass zu überwinden; der "Puerto del Cabrito" ist zwar nur 340 m hoch, dafür müssen wir uns mächtig gegen den Wind stemmen. Ein riesiger Windräderpark wurde hier an den kahlen Hängen der Südspitze Spaniens errichtet. Wegen des Windes ist Tarifa natürlich auch ein Eldorado für Surfer aus aller Welt. - Wir sehen die Stadt vor uns liegen; das Ortseingangsschild fehlt allerdings. Im Hafen fahren wir auf eine Mole, die zu einer vorgelagerten Insel führt. Diese Insel ist allerdings militärisches Sperrgebiet, sodass wir mit der Mole als südlichsten Punkt unserer Tour Vorliebe nehmen müssen. Von hier aus beobachten wir viele Schiffe, die den Weg durch die Meerenge von Gibraltar nehmen. Die Sonne scheint, aber es ist dunstig. In nur 14 km Entfernung - kaum vorstellbar - befindet sich der afrikanische Kontinent. Nach einem erfrischenden Bad im Atlantik bewundern wir die sehenswerte Altstadt von Tarifa. Die maurischen Eroberer haben hier deutlich ihre Spuren hinterlassen. Der Eingangsbereich zu unserem Hostal ist durch dekorative Wand- und Bodenfliesen hervorgehoben. Diese schmucke Art der Gestaltung von Hauseingängen ist hier häufig anzutreffen.

Donnerstag, 07. Oktober 1999, der 19. Tag unserer Tour: Ca. 3.200 km liegen hinter uns, jetzt ist es nur noch ein Katzensprung bis Gibraltar! Es ist kühl und leicht bewölkt als wir auf dieselbe Straße wie am Vortag einbiegen. Vorbei an Algeciras zweigen wir nach etwa 30 km rechts nach Gibraltar ab, den markanten 423 m hohen Felsen fest im Blickpunkt! Wir nähern uns dem Zoll. Passkontrolle! Unmittelbar danach überqueren wir kreuzungsgleich den Flughafen und stoppen an einem Monument, an dessen Sockel in großen Lettern geschrieben steht: "GIBRALTAR - CRADLE OF HISTORY". Die britische Flagge weht über uralten Gemäuern. Zwei typisch britische Bobbys stehen am Straßenrand als wir der Ausschilderung zum "Europe Point" folgen. Vorbei an einer Moschee rollen wir Richtung Leuchtturm. Gleich daneben bietet der "Last Shop in Europe" Souvenirs aller Art an. Unser Interesse gilt aber mehr der Aussichtsplattform, die uns einen unvergessenen Überblick gibt: Direkt vor uns die Straße von Gibraltar, 70.000 Schiffe passieren jährlich diese Engstelle. Im Hintergrund, leicht im Dunst, aber deutlich zu erkennen befinden sich die Berge von Marokko! Auf einer Tafel ist zu lesen, dass hier Herkules Europa von Afrika geteilt haben soll! - Griechische Sage und die historische Bedeutsamkeit verschmelzen ineinander. Einst wurde die Halbinsel von den Arabern erobert, 1462 von Kastilien zurückerobert und ab 1704 von England besetzt. Kaum ein anderer Ort auf der Erde ist so geschichtsträchtig!

An der Costa del Sol klingt unsere Tour aus. Über Marbella fahren wir zum Flughafen von Málaga. - Gemeinsam haben wir das Ziel unserer Etappenfahrt erreicht und damit einen weiteren "Meilenstein der Radlgeschichte" gesetzt.

MUCHAS GRACIAS. ADIOS ESPANIA!