Samstag, 27. September 1997, 07.00 Uhr; Michael und ich sind startklar für eine Etappenfahrt nach Sizilien! Am heutigen Tag denken wir aber zunächst an unser Tagesziel Brixen. Wir haben beide einen Rucksack; Michael hat zusätzlich eine Lenkertasche installiert, um noch etwas mehr Stauraum zu haben. Mit Reiseliteratur sowie einem robusten Fahrradschloss ist seine Ausrüstung umfangreicher und auch schwerer.
Mit Handschuhen und warmen Jacken verlassen wir an diesem sonnigen aber frischem Altweibersommertag das Münchner Stadtgebiet. Nach Bad Tölz erreichen wir Jachenau, wo die schmucken Bauernhöfe mit ihrer Blumenpracht an Fenstern und Balkonen von den ersten wärmenden Sonnenstrahlen erhellt werden. Michael bewundert das zum Teil in großen Mengen akkurat aufgestapelte Holz. Kurzer Stopp am Walchensee, kaum ein Lüftchen bewegt das klare Wasser des Gebirgssees. Für wenige Momente genießen wir hier Ruhe und Beschaulichkeit. Recht schnell befinden wir uns dann auf der B11 Richtung Mittenwald/Scharnitz. In einem Lebensmittelgeschäft auf österreichischer Seite stärken wir uns erst einmal. Die Sonne strahlt jetzt angenehm warm - ein optimaler Auftakt für unsere Tour!
Wenig später kommt es zu einem Zwischenfall: Die B177 ist von Reith nach Zirl für Radfahrer gesperrt. Wir haben aber keine Alternative und rollen den bis zu 16%igen Zirler Berg hinab, überholen dabei noch einige Kraftfahrzeuge. Es kommt, wie es kommen musste: Kurz vor Zirl stoppt uns ein Motorrad der Gendarmerie. Der Beamte hält uns die Verstöße gegen die StVO vor und fordert sofort ein Bußgeld in Höhe von 500,- ÖS. Einsichtig aber ungern zahlen wir.
Nach Innsbruck geht es die Brennerbundesstraße hinauf. In Gries endlich Zeit
zum Durchatmen, wir stärken uns bei Kaffee und Kuchen auf einer
sonnenüberfluteten Terrasse. Hier treffen wir einige österreichische
Motorradfahrer, die wir oben am Brenner noch einmal sehen. Das Servus zu den
Motorradfahrern bedeutet gleichzeitig Servus Österreich! Wir rollen durch
Sterzing und bestaunen in Franzensfeste die mächtigen Mauern der Festung. Der
Eindruck, dass hier alles ruhig ist, trügt allerdings. Urplötzlich erscheinen
Soldaten mit Maschinengewehren und fordern uns unverzüglich zum Verlassen
dieses Bereichs auf. Nun ist es nicht mehr weit bis Brixen, wo wir zunächst in
der sehenswerten Altstadt ein Quartier suchen. Schließlich entscheiden wir uns
für ein neues Gästehaus etwas außerhalb der Stadt an der Straße nach Lüsen. Von
hier haben wir einen herrlichen Blick über die Stadt. Michael bewundert die
raffiniert hergestellten roten Fensterläden sowie die rustikal eingerichtete
Gaststube. Nach 230 km genießen wir ein vorzügliches Abendessen.
Sonnenschein auch am zweiten Tag, 195 km nach Lazise am Gardasee stehen auf
unserem Programm. Auf engstem Raum drängen sich im Tal der Eisack die
Brennerautobahn, die fast ausschließlich auf Betonpfeilern geführt wird, die
Brennerbundesstraße und die Eisenbahntrasse. Jede Menge Äpfel aus dem
Südtiroler Obstgarten werden am Straßenrand zum Verkauf angeboten. Kurz vor
Trento machen wir in einer Bar die erste Pause. In Rovereto zweigen wir rechts
Richtung Gardasee ab. Zügig rollen wir nach Tobole hinunter und als wir
plötzlich das Wasser des beliebten Sees sehen, stellt sich ein erstes
Erfolgserlebnis ein. Am Ostufer des Gardasees begegnen uns immer wieder
Radler. In Lazise fackeln wir nicht lange und checken in dem selben Hotel ein,
wo wir schon einmal im Mai 1996 zu Gast waren. Es ist derselbe mürrische Herr
an der Rezeption wie damals und als wir unsere Räder auch noch im Freien
abstellen müssen, obwohl eine große Garage vorhanden ist, verschwindet unsere
gute Laune. Ein schmackhaftes Abendessen und die Vorfreude auf den nächsten Tag
stimmen uns wieder optimistisch.
Der dritte Tag führt uns zunächst nach Mantova, eine graue wenig
charaktervolle Stadt. Die Geschäfte hier nutzen wir, um uns zu stärken. Wenig
später, kurz vor Borgoforte überqueren wir den Po. Wir fahren in Reggio und
Sassuolo durch lebhaften Stadtverkehr. Außerhalb der Städte können wir nur die
landwirtschaftlichen Nutzflächen der Poebene "bewundern". Am Ende der Etappe
soll es aber abwechslungsreicher werden! Unser Ziel Piandelagotti liegt in
ca. 1'200 m Höhe. Noch vor Montefiorino wird es spürbar ruhiger. Wald umgibt
uns auf der allmählich aber stetig steigenden Straße. Die Kilometerangaben nach
Piandelagotti werden exakt durch Tafeln angezeigt, alle 1'000 m ein Schild; ein
guter Service, besonders wenn es bergan geht. Die kleinen Dörfer hier machen
einen einsamen und verschlafenen Eindruck, ohne Restaurants oder
Herbergen. Sollte es in Piandelagotti auch so aussehen? Endlich erreichen wir
unser Ziel, die abendliche Kühle hält bereits Einzug. Im Ort wird die
Asphaltdecke erneuert. Wir kurven um LKW und Baumaschinen, bis wir rechter Hand
ein Schild sehen: Restaurant/Herberge! Wir treten ein, die Tische sind
eingedeckt, aber es ist niemand anwesend. Selbst klingeln und laut rufen helfen
nicht. Ich steige eine dunkle Treppe hinauf; das Haus gleicht einer
Abstellkammer, selbst eine Veranda dient als Platz für ausrangierte
Haushaltsgeräte. Endlich öffnet sich eine Tür und ein älterer Herr kommt mir
entgegen, er gibt uns ein sehr einfaches aber zweckmäßiges Zimmer. Noch während
Michael duscht, klopft jemand wie wild an unsere Tür. Schnell erkenne ich
warum: Das Wasser läuft zur Tür hinaus auf den Flur, hinunter in die erste
Etage genau auf einen Teppich. Plötzlich ist Leben in diesem scheinbar
verlassenen Haus, eine Frau wirbelt mit Eimer und Scheuerlappen die Treppe auf
und ab, andere Personen unterhalten sich im Erdgeschoss angeregt. Der Schaden
hält sich aber in Grenzen. Gegen 19:00 Uhr stellen auch die Straßenbauarbeiter
ihre Maschinen ab, es kehrt Ruhe ein. Als im selben Moment die Glocken der
kleinen Dorfkirche eine Melodie läuten, herrscht eine regelrecht feierliche
Abendstimmung.
Ein zauberhafter Morgen erwartet uns; die Sonne strahlt vom azurblauen Himmel, wir atmen tief in der reinen frischen Bergluft. Nach ca. 8 km erreichen wir den "Passo delle Radici" in 1'529 m. Ein großes Schild, welches auf den Übergang zur Toscana hinweist sowie eine prachtvolle Aussicht lassen uns für einige Minuten verweilen. Die anschließende Abfahrt ist einfach traumhaft: 30 km bis Castnuovo di Garfagnana auf einer fast autofreien durch herbstlich gefärbten Mischwald führenden Straße! Kurz vor Lucca herrscht sehr dichter Verkehr, wir schwimmen mit den Autos durch die Stadt. Noch 18 km bis Pisa; klar, dass wir nur den Schiefen Turm im Sinn haben. Euphorisch stürmen wir in die Stadt. Michael hat das richtige Feeling, der Turm muss sich innerhalb der Altstadtmauern befinden. Unsere Blicke kreisen durch die engen Gassen, als wir plötzlich das berühmte Bauwerk sehen!
Interessant zu wissen, dass man vor über 800 Jahren neben der zuvor errichteten Kathedrale einen Glockenturm zu bauen begann. Dieser Turm war bis zum dritten Stock vorangekommen, da gab das Erdreich immer mehr nach. Der Bau musste eingestellt werden, es entstand schon damals die charakteristische Neigung. Ein Jahrhundert später wurde der Turm bis zu seiner jetzigen Höhe auf 56 m vollendet. - Von der Terrasse des Schiefen Turms machte Galileo Galilei seine Versuche mit der Schwerkraft und entwickelte daraus das Gesetz des freien Falls.
Wir verlassen Pisa und steuern unser Tagesziel San Gimignano an - ein
weiteres Highlight! San Gimignano wird auch "Manhatten der Toscana"
genannt. Tatsächlich wirken die noch 15 von einst 72 Geschlechtertürme wie
Wolkenkratzer! Touristenrummel herrscht in der Stadt, ein freies Hotelzimmer
ist nicht zu bekommen, wir beziehen schließlich ein gutes Privatzimmer.
Wir frühstücken in einem Straßencafé direkt am Marktplatz. Tauben fliegen umher, Kehrmaschinen säubern den noch menschenleeren Platz. Es ist die Ruhe vor dem Sturm; wenig später werden Touristen sich in den engen Gassen der Stadt drängen.
Auch am fünften Tag begleitet uns strahlender Sonnenschein, wir verlassen
San Gimignano mit Ziel Piancastagnaio. Über Monticiano und Roccastrada fahren
wir zum Gebirgsmassiv Monte Amiata, an dessen Fuß unser heutiger Etappenort
liegt. Piancastagnaio präsentiert sich als kleine ruhige Stadt in den Bergen
ohne Tourismus. Allerdings hat unsere Unterkunft schon bessere Zeiten
erlebt. Weißrotes Absperrband ist über den Großteil der Terrasse gespannt, da
Putz von den Außenmauern bröckelt. Leere Getränkekisten und Wäscheleinen
bestimmen den noch intakten Teil der Terrasse. Im Restaurant ist eine
Fernsehecke eingerichtet. Neutralweiße Leuchtstoffröhren erhellen den
Raum. Stockdunkel ist es dagegen an der Bar, welche gleichzeitig als Rezeption
dient. Das Treppenhaus ist mit Spannteppichen ausgelegt, ganz oben dringt
Feuchtigkeit von dem undichten Dach ins Mauerwerk. Dennoch ist unser Zimmer
ordentlich eingerichtet und wir haben einen phantastischen Ausblick auf das
weite Land im Süden! - In der Altstadt von Piancastagnaio werden wir von den
Bewohnern der Stadt unschwer als Fremde identifiziert. Um 18:00 Uhr finden wir
noch kein geöffnetes Restaurant, also haben wir uns daran zu gewöhnen erst ab
19:30 Uhr Speisen zu erhalten, meist sind wir auch dann die ersten Gäste des
Abends.
Die 6. Etappe führt über 160 km von Piancastagnaio nach Rieti. Wir starten
bei Sonnenschein, tauchen aber für kurze Zeit in ein Nebelmeer ein, das sich
vom Lago di Bolsena ausgebreitet hat. Wir passieren den recht großen See und
unterqueren anschließend die Auto- und Eisenbahntrasse Florenz-Rom. In Amelia
stoßen wir auf ein imposantes Stadttor und stoppen am Ortsende an einem ebenso
stattlichen Portal, welches als Einfahrt zu einem Grundstück dient. Ein ca. 200
m langer schnurgerader Weg, an beiden Seiten mit gepflegten schlanken
Nadelgewächsen eingefasst, führt zu einer auf einer Anhöhe stehender Villa. Vor
dem Portal treffen wir zwei Damen aus den USA. Sie parken gerade ihren
Mietwagen und fragen uns nach dem woher und wohin. Nach einem kurzen Gespräch
verabschieden wir uns von den neugierigen Amerikanerinnen und erreichen Narni,
wo wir etwas Mühe haben, den richtigen Weg nach Terni zu finden. Von Terni nach
Rieti benutzen wir dann eine Schnellstraße, die in einem weiten Bogen von
Westen in die Stadt führt. Wir fahren ins Zentrum der Stadt und finden
außerhalb der mächtigen Stadtmauern ein kleines unscheinbares Hotel. Das
Einchecken hier gestaltet sich als zeitraubendes aber auch amüsantes
Schauspiel. Ein kleiner rundlicher älterer Herr um die Sechzig redet
unaufhörlich. Wir verstehen kein Wort. Immer dann, wenn er aus unseren
Ausweispapieren die richtigen Daten in sein Formular eingetragen hat, hebt er
seine Stimme bis hin zum Gesang. Nach dieser Prozedur ist noch genügend Zeit
für einen Stadtbummel. Kurz nach 19:00 Uhr schleichen wir hungrig um ein
Restaurant, welches sich in der obersten Etage eines Hotels befindet. Zögernd
treten wir ein, die Tische sind eingedeckt aber es ist dunkel, nur in einer
Ecke, wo das Personal sitzt, brennt Licht. Wir dürfen Platz nehmen und werden
alsbald vorzüglich bedient.
Mit einem Bademantel bekleidet und einem Streifen Rasiercreme am Kinn erscheint am nächsten Morgen wieder unser liebenswürdige rundliche Herr. Er versucht mir zu erklären, wie das Garagentor zu öffnen sei - als ich Erfolg habe, singt er förmlich eine Lobeshymne... Gutgelaunt verlassen wir Rieti mit Ziel Cassino (180 km). Wir erreichen recht schnell den Lago del Salto, ein wunderschön in die Landschaft eingebetteter Stausee, an dessen Uferseite wir auf einer fast autofreien Straße gemütlich plaudernd die Natur genießen. Danach durchfahren wir verschlafene Dörfer, die bereits wieder über 900 m Meereshöhe liegen. Kurz nach Tagliacozzo entscheiden wir uns für eine Mittagspause in einem großen Restaurant mit Bowlingbahnen. Der große Parkplatz vor dem Lokal ist leer, im Inneren ist kein Mensch zu sehen, das Rufen nach Angestellten erfolglos. Erst als ich in die Küche vordringe, nimmt man uns zur Kenntnis. Dafür werden wir als einzige Gäste fürstlich bewirtet. Gestärkt rollen wir auf einer herrlichen Talstraße über Capistrello nach Sora. Es ist der heißeste Tag bis jetzt, ausgelaugt ergänzen wir in einer Bar unsere Getränkevorräte. Bis Cassino benutzen wir wieder eine Schnellstraße. Die lange Abfahrt in die Stadt auf 40 m Meereshöhe ist beeindruckend. Schon von weitem erkennen wir den Klosterberg Montecassino.
Benedikt von Nursia, der Ordensvater der Benediktiner, hatte im Jahre 529 n. Chr. den Konvent 120 km südöstlich von Rom gegründet. Die Klosterabtei gilt als Wiege der katholischen Kirche. Am 15. Februar 1944 bombardierten die Alliierten die Abtei von Montecassino, es war der schwerste Angriff auf ein einzelnes Gebäude im Zweiten Weltkrieg. Hitlers Truppen hatten zuvor den Berg, nicht aber das Kloster besetzt. Warum die Alliierten trotzdem die Abtei zerstörten, ist bis heute ungeklärt geblieben. Unmittelbar nach der Bombardierung besetzte die Wehrmacht die Ruinen. Es dauerte noch fast vier Monate, bis die Alliierten das Kloster erobert hatten.
Im Zentrum der Stadt sehen wir ein Mahnmal für die Opfer dieser
Schlacht. Rings um die Stadt liegen mehrere Militärfriedhöfe. Cassino besteht
überwiegend aus Gebäuden, die nach dem Krieg errichtet wurden.
Am 8. Tag benutzen wir zunächst die S 6 Richtung Neapel. Bis Maddaloni kommen wir zügig voran, müssen uns aber mehrmals nach dem richtigen Weg erkundigen, da wir ausgerechnet hier nur Karten im Maßstab 1:400 000 zur Verfügung haben. Alle anderen Etappen der Tour haben wir als Farbkopie im Maßstab 1:200 000 laminiert, was sich als idealer Reiseführer bewähren sollte. Wir durchfahren ein mächtiges Aquädukt und spüren die Nähe des Ballungsraumes Neapel. Unverkennbar steuern wir jetzt, genau von Norden kommend, auf den Vesuv zu. In Marigliano rumpeln wir erstmals über grobe ca. 30x60 cm große schwarze Pflastersteine! Derartige Straßenabschnitte sollten ab jetzt noch öfter folgen. Nachdem wir uns mit Spaghetti gestärkt haben, erweist sich die Hoffnung aus einer Ortschaft herauszukommen als Trugschluss. Die Gegend um den Vesuv ist so dicht besiedelt, dass die Ortschaften nahtlos und meistens ohne Beschilderung ineinander übergehen. Das erschwert natürlich die Orientierung, die holprigen Straßen und der dichte Verkehr verlangen volle Konzentration. Fast beiläufig bemerken wir links der Straße die Bahnstation von Pompeji und sehen gleich gegenüber die Kathedrale der Stadt.
Im Jahre 79 n. Chr. wurde das alte Pompeji durch einen Ausbruch des Vesuv völlig verschüttet. Seit dem 18. Jahrhundert durchgeführte Ausgrabungen und Rekonstruktionen vermitteln ein eindrucksvolles Bild des Lebens vor 2000 Jahren. Die fast komplette Altstadt mit repräsentativen Bauwerken, gut erhaltenen Freskenmalereien und gepflasterte Straßen können die Besucher jetzt hier bewundern.
Wir verlassen Pompeji mit Ziel Sorrento. Auf einer Anhöhe fesselt uns für
Minuten ein erster Blick auf die berühmte Bucht von Neapel und dem
Vesuv. Michael zitiert den bekannten Satz: "Neapel sehen und sterben!" -
Unsere Hoffnung, Sorrento als ruhigen Urlaubsort vorzufinden, bestätigt sich
nicht. Es ist ein Hexenkessel mit knatternden Motorrollern, Reisebussen und
verstopften Straßen. Ein paar Kilometer außerhalb der Stadt finden wir
schließlich ein Zimmer in einem erstklassigen Hotel. Vom Haupteingang des
Hotels blicken wir am Abend noch lange auf die Bucht von Neapel, als ob wir
diesen Anblick mit nach Hause nehmen wollten...
Sonntagmorgen, 28°C, strahlender Sonnenschein und eine der schönsten Küstenstraßen der Welt! Man könnte unzählige Superlative aneinanderreihen, um diese traumhaft schöne Küste zu beschreiben! Die Straße schlängelt sich 'mal höher 'mal tiefer nach Positano; der Ort liegt malerisch eingebettet am und im Fels, die Häuser stehen dichtgedrängt, bilden mit der Landschaft eine Einheit. An den Felsen hängende dunkelrot blühende Kletterblumen stehen im Kontrast mit den hellen von der Sonne angestrahlten Häuserfassaden. Oft halten wir an und genießen diese einzigartige Küste. In Amalfi entdecken wir ein Schild mit den Namen von Henrik Ibsen und Richard Wagner. Wir können uns kaum trennen von dieser einzigartigen Küstenstraße. Erst in Salerno fesselt uns wieder dichter Ausflugsverkehr; am Ortsausgang gönnen wir uns eine erholsame Mittagspause mit Salat und Spaghetti. Unsere nächsten Stationen sind auf einem flachen Küstenabschnitt Paestum und Agropoli. Irgendwie haben wir es heute überhaupt nicht eilig, wir genießen und rasten, als wäre es ein Feiertag. Mit Erreichen unseres Etappenortes Palinuro sehen wir die Sonne blutrot im Tyrrhenischen Meer untergehen...
Schnell finden wir ein Quartier in diesem Ort, der von den Touristen des
Sommers verlassen scheint. Bei gutem Wein auf einer ruhigen fast einsamen
Terrasse lassen wir den Tag nach 185 km ausklingen.
Die 10. Etappe führt uns über 180 km von Palinuro nach Amantea. Wir klettern vorerst bis über 500 m über dem Meeresspiegel, um anschließend eine herrliche Abfahrt nach Sapri zu genießen. Hier verweilen wir kurz in einem gepflegten Park direkt am Meer. Der folgende Küstenabschnitt ist sehr ruhig, wir überblicken immer wieder die Weite des Meeres. Erst später wird die S 18 flacher und geradliniger, dabei führt die Trasse durch einige beleuchtete Tunnels. Amantea zeigt sich kleine Provinzstadt am Meer. Nach kurzer Suche finden wir ein Hotel. Allerdings lässt die dahinter vorbei führende Eisenbahnlinie Befürchtungen hinsichtlich der nächtlichen Ruhe aufkommen, was sich in der Nacht bewahrheitet: Die Züge donnern förmlich mitten durch unser Zimmer!
Heute Morgen treffen wir zunächst wieder einmal auf einen sehr gewissenhaften Angestellten in unserem Hotel. Unsere Geburtsorte sind ihm besonders wichtig und er achtet peinlich genau darauf, dass wir mit Vor- und Zunamen unterschreiben.
Nach diesen Formalitäten geht's endlich los: Die S 18 bleibt vorerst flach, dann nach Vibo Valentia ein überraschend langer Anstieg, Rosarno liegt wieder im Tal und nach Palmi ein erneuter Anstieg. Die Sonne knallt heute besonders heiß: 30°C. Auf der Straße nach Scilla ist es um die Mittagszeit recht ruhig. Kurz nach Bagnara Calabra sehen wir einen Sendemast und einen Leuchtturm. Das muss Sizilien sein! Schon bald erkennen wir auch Häuser auf der gegenüberliegenden Seite - nur durch die etwa fünf Kilometer breite Straße von Messina getrennt. Dunkle Wolken verbergen dagegen den 3'323 m hohen Ätna. Scilla, eine alte Festungsstadt, war ursprünglich als Etappenziel geplant. Da wir aber Sizilien in Sichtweite haben, wollen wir unbedingt noch übersetzen. Wir suchen den Fährhafen und erreichen eine Straße am Hafen. Überhastet reihen wir uns in eine Autokolonne ein, von der wir annehmen, dass diese für die Fähre bestimmt ist. Diese Fahrzeuge rollen aber alle ins Landesinnere direkt auf die "Autostrada"! Aufgeregt drehen wir um und folgen nun einem Schiffssymbol. Eher zufällig finden wir die Anlegestelle und checken ein. Vom Oberdeck ist eine herrliche Aussicht zu bewundern. Ein russischer Frachter schippert nur etwa 100 m vor dem Bug der Fähre vorbei. In Messina angekommen, verlassen wir die Stadt in nördlicher Richtung und finden eine Pension in Ganzirri. - Reges Treiben herrscht am Abend in diesem kleinen Ort. Ein mildes Lüftchen weht um die Terrasse einer Trattoria, in der wir Platz nehmen. Ab und zu bringt der Wind auch den Duft von blühenden Pflanzen mit. Der Wirt kommt unserer umfangreichen Bestellung gerne nach. Noch um 21:00 Uhr bieten Fischer auf der Straße frische Muscheln und Seefisch aller Art an, welche durch helle Glühbirnen angestrahlt werden und dadurch besonders appetitlich wirken.
Am heutigen Abend sind wir besonders glücklich, denn wir haben Sizilien
erreicht, 2'000 km in elf Tagen liegen hinter uns, noch vier Tage auf der
Mittelmeerinsel vor uns.
Am nächsten Morgen werden wir von einem Gewitter geweckt. Die Hoffnung, dass sich der Regen am Vormittag verziehen würde, bestätigt sich leider nicht. Es ist aber mit 20°C recht warm, so beschließen wir wie geplant an der Nordküste Siziliens entlang zu fahren. Langgezogene Ortschaften mit dichtem Verkehr aber auch ruhige Küstenabschnitte wechseln einander ab. Irgendwo halten wir an einer Bar an. Bei Cappuccino und Kuchen machen wir uns es auf gepolsterten Stühlen bequem. Draußen regnet es immer noch in Strömen. Unsere Hosen trocknen etwas ab, die Stühle hingegen werden wahrscheinlich für den Rest des Tages unbenutzt bleiben... Ab der Ortschaft Patti trocknet die Straße ab. Gleich am Ortseingang von Sant' Agata di Militello beschließen wir an einer Tankstelle unsere Räder zu reinigen. Ein freundlicher Tankwart stellt uns Wasser, Schwamm und Putzlappen zur Verfügung. Mit Resten aus Motorölflaschen schmieren wir unsere Ketten. Während dieser Prozedur kommen wir mit einigen Leuten ins Gespräch, die in Deutschland gearbeitet hatten. Sie geben uns auch Hinweise zu den drei Hotels im Ort. Diese Gästehäuser erweisen sich allerdings bei näherer Betrachtung als gesichtslose Fassaden. - Wir beschließen nach San Fratello weiterzufahren, einem Bergdorf in 675 m Höhe, in der Hoffnung dort eine Herberge zu finden.
Am Ortseingang von San Fratello stimmt uns das Schild "Centro" optimistisch; nach dem Motto, wenn dieser Ort ein Zentrum hat, muss es auch eine Herberge geben! Es wird bereits dunkel, als wir die erste Häuserzeile erreichen. Mit skeptischen Blicken betrachten wir alle Gebäude und entdecken eine Herberge. Ein wortkarger unrasierter älterer Herr führt uns hinein. Nun begrüßt uns die Wirtin der Pension und bietet uns freundlich ein gutes Zimmer an. Sie ist recht besorgt um uns, Michael gibt deshalb gleich bei ihr eine Bestellung für das Abendessen auf. Die nüchterne Gaststube wirkt wie der Speiseraum einer Jugendherberge. Grünpflanzen stehen auf den Fensterbänken, die Tische sind simpel und zweckmäßig. Durch ein großes Glasschiebefenster sind die Aktivitäten in der Küche zu beobachten. Nun wird neben uns ein zweiter Tisch mit drei Straßenbauarbeitern besetzt. Ein junger Mann von ihnen spricht Deutsch, er hatte vor einigen Jahren in einem Frankfurter Postamt gearbeitet.
Am Abend regnet es erneut. Die Hauptstraße des Ortes wird dennoch von vielen
Einwohnern bevölkert. Während eines Spazierganges nach dem Abendessen werden
wir von den Leuten erwartungsgemäß als Fremde erkannt. In einer gutbesuchten
Bar spielen Männer Dart und Karten. Wir trinken an der Theke ein Bier. Wenig
später schauen wir in eine noch geöffnete Bäckerei. Die gesamte Familie ist
anwesend. Der Meister bietet uns Gebäck an und möchte genau wissen, wo wir
herkommen und hinwollen.
Sonnenschein weckt uns am nächsten Tag. Wir sind voller Vorfreude auf die
140 km-Etappe nach Enna, dem Belvedere Siziliens! Abschied vom Bäcker in San
Fratello, dessen Geselle uns noch zwei kleine backofenheiße Brote mit auf den
Weg gibt. Gutgelaunt nehmen wir durch dichten Laubwald fahrend die Steigung zum
1'524 m hohen "Portella Fémmina Morta"- Pass in Angriff. Hier treffen wir den
ehemaligen Postbediensteten von Frankfurt wieder. Bereitwillig macht er ein
Foto von uns. Er wünscht uns noch eine gute Fahrt und schon rollen wir auf
einer berauschenden Abfahrt nach Cesaró. - Es scheint so, als ob fast jeder Ort
in irgendeiner Form bemerkenswert ist. So zieht in Cesaró eine "Cristo Signore
della Montagna" - Statue, auf einer Bergkuppe stehend, unsere Blicke
interessiert an. Die abwechslungsreiche Landschaft mit seinen kurvenreichen
Straßen, welche die oft auf einem Berg liegenden Ortschaften verbinden, prägen
überwiegend den Charakter Siziliens. Von Leonforte ist es nur noch ein
Katzensprung bis ins 930 m hohe Enna, welches sich zu unserer Überraschung in
Wolken verhüllt zeigt. Wir absolvieren eine fast klassische Bergankunft. Im
Hotel "Sicilia" checken wir ein. Auch hier herrscht im Ort am Abend eine
ausgelassene Volksfeststimmung. In der winzigen Gaststube "Grotte" nehmen wir
ein köstliches Abendessen ein. Bis tief in die Nacht halten uns jaulende Hunde
wach, eine eigenartige ja gespenstische Atmosphäre die da in unser weit
geöffnetes Hotelfenster hereingetragen wird...
Am Morgen tummeln wir uns zunächst ausgiebig an dem reichhaltigen Frühstücksbüfett. Gut gestärkt verlassen wir die schattigen Altstadtmauern. Eine sonnenüberflutete Aussichtsplattform in der Nähe der Burg, dem höchsten Punkt Ennas, zieht uns fast magisch an. Was sich hier unseren Augen bietet ist einfach gigantisch! Wir überblicken weite Teile Siziliens! Majestätisch herrscht im Osten der Insel der Ätna. Aus dem Krater des größten in Europa tätigen Vulkans treibt der Wind eine schwache Rauchwolke nach Süden. Mit Hilfe der Landkarte finden wir die Ortschaften heraus, die wir von hier sehen. Markant verfolgen wir das graue Band der Autobahn Richtung Catania.
Durch die prachtvolle Aussicht motiviert, rollen wir an diesem sehr warmen Oktobertag Richtung Ätna, um an dessen Fuß in Adrano ein Quartier zu finden. Dichter Verkehr empfängt uns dort um die Mittagszeit. Am Ortsausgang stoppen wir bei einem Obsthändler am Straßenrand. Extra für uns muss hier jemand zwei Stühle aufgestellt haben, auf denen wir Platz nehmen. Äpfel, Bananen und Weintrauben schmecken vorzüglich, die Trauben spült Michael zuvor gekonnt mit dem Leitungswasser aus seiner Trinkflasche ab. Der junge Obsthändler erzählt sehr viel, wir verstehen aber kaum ein Wort. Plötzlich hält ein Auto direkt vor uns an. Eine dünne Staubwolke legt sich über das zum Kauf angebotene Obst. Ein Mann mit gutem Anzug steigt aus und betrachtet unsere Räder. Er fragt uns in Englisch, wo wir herkommen. Wir berichten von unserem Tourverlauf und dass wir ein Hotel suchen. Der Mann nickt erstaunt und nennt uns das Hotel "Etna" in Belpasso, dann braust er auch schon wieder in seinem Wagen davon. Zunächst diskutieren wir dieses Angebot, beschließen aber rasch das Hotel "Etna" aufzusuchen.
Dieses Hotel hebt sich nur wenig von den umliegenden Häusern ab, ein Hund
schläft vor dem Eingang und nimmt kaum Notiz von uns. Wir erhalten ein
anständiges Zimmer und auch unsere Räder dürfen wir in der Garage im Hinterhof
einstellen. Es scheint so, als ob keine weiteren Gäste anwesend sind. Rasch
gehe ich noch ein paar Ansichtskarten besorgen, als im Ort plötzlich ein LKW
stoppt, dessen Fahrer mich anspricht. Ich erkenne den Mann im Anzug wieder! Er
erzählt mir, dass er ein Fahrradgeschäft im Ort besitzt, daraufhin sage ich ihm
einen Besuch mit Michael am Abend zu. Während unser kurzen Unterhaltung bildet
sich hinter dem LKW ein Stau, aber kein Autofahrer regt sich darüber auf. - Am
Abend sehen wir dann ein für diesen Ort prima eingerichtetes Fahrradgeschäft,
dessen Besitzer vor ein paar Tagen von einem längeren Australienaufenthalt
zurückgekehrt ist.
Am letzten Tag unserer Tour ist auf dem Ätna die "Rifugio Sapienza" in 1'910 m - die höchste asfaltierte Straße Siziliens unser Ziel. In moderater Steigung windet sich diese gut ausgebaute Straße zunächst durch grüne bewachsene Hänge. Weiter oben fahren wir dann durch erstarrte Lavafelder, welche sich wie von einem Schneepflug breit geschoben zu beiden Seiten der Straße auftürmen. In einer Serpentine ist von einem kleinen alten Haus nur noch das Dach zu sehen, den Rest haben die Lavamassen unter sich begraben. Von der Passhöhe haben wir erneut eine prachtvolle Aussicht auf die am Fuße des aktiven Vulkans liegenden Ortschaften bis hin zur Hafeneinfahrt von Catania. Wir wollen aber noch höher hinaus! Mit der Seilbahn kommen wir dem rauchenden Riesenkrater noch ein Stück näher und wandern wenig später durch Lavafelder, die zum Teil zu phantasievollen Formen erstarrt sind. Kleine gelbe Schilder mit einer Jahreszahl weisen auf die Herkunft dieser wie aus einem Hochofen stammenden Schlacke hin. Ständig grollt und donnert im Inneren des Kraters.
Mit diesen Eindrücken rollen wir auf dieser wunderschönen Passstraße zurück nach Belpasso. Nach der Gepäckaufnahme im Hotel fahren wir gemütlich zum Flughafen nach Catania. Nun heißt es Abschied nehmen vom sonnigen Süden - Ciao Italien! Gegen 21:00 Uhr heben wir ab und erreichen nach zwei Stunden das kalte verregnete München.