Nach zwei Langstrecken-Radtouren in '94 und in '95 bin ich dem
Langestreckenradeln verfallen. Wir wollten zu zweit eine Woche durch
Korsika radeln und ich hatte eine zweite Woche für mich allein zur
Verfügung. Was lag da näher als meinem Radldrang zu folgen und in der
Woche durch die Toskana, über den Apennin, durch San Marino, die Adria
hoch, durch Slowenien nach Österreich und dort über die
Großglockner-Hochalpenstraße zu radeln?
Für die Anreise hatten wir uns den Fahrradbus ausgesucht, der uns an
der Pont du Gard in der Provence absetzte. Bei strahlendem
Sonnenschein radelten wir zur Rhone und daran entlang nach Arles. Nach
einem Schlenker durch die platte und karge Camargue nahmen wir den Zug
nach Marseille. Von den drei Campingplätzen im Stadtplan von Marseille
existierte keiner mehr. Wir hatten jedoch Glück im Unglück: 200m
hinter dem Campingplatz war eine Jugendherberge, die uns des morgens
mit lecker knusprigen Baguette und heißem Kakao bewirtete.
Der Fährpreis zur Ostküste Korsikas war halb so hoch wie der zur
nähergelegenen Westküste, so daß wir uns entschieden, zur Ostküste zu
fahren, mit der korsischen Eisenbahn(CFC) zur Paßhöhe raufzufahren und
zur Westküste herunterzurollen. Jetzt im September waren die Feigen
und auch die Kaktusfeigen reif und wir konnten uns daran stärken. Nach
einem Badetag am wunderschönen Golfo de la Liscia brachte uns die CFC
wieder rauf zur Paßhöhe. Auf einem urigen Campingplatz zelteten wir
unter Apfelbäumen, deren reife Früchte den Radlern als Nahrung
dienten. Auf kaum drei Meter breiten Straßen ging es dann durch die
schroffe, aber auch grüne Bergwelt Richtung Ostküste. Nach einer 15 km
langen Abfahrt fanden wir uns inmitten von Kiwi- und Orangenplantagen
wieder. Wenige Kilometer weiter erwartete uns ein endloser Sandstrand,
den wir fast für uns alleine hatten.
In Bastia trafen wir einen Radler wieder, den wir bereits im Zug
kennengelernt hatten. Ihm hatte das Schicksal arg zugesetzt: auf einem
Zeltplatz hatte die Rezeption mehrere Stunden im Müll wühlen müssen,
um seinen Paß wiederzufinden; beim Radeln konnte er mit seiner
Partnerin nicht mithalten, so daß er die Tour abbrach; das teure
Hotelzimmer in Bastia war voller Kakerlaken und zu laut, so daß er
noch in der Nacht wieder auszog; beim Radeln am Folgetag - das erste
Mal ohne Helm - stürzte er, so daß er mit ein paar Stichen am Kopf
genäht werden mußte; schließlich fing er das Rauchen wieder an. Ich
hoffte für ihn, daß sein neues Zelt feuerfest ist.
Nach der Fährfahrt nach Livorno zum italienischen Festland radelte ich
alleine weiter. Auf flacher Strecke am Arno entlang erreichte ich
Florenz noch am selben Abend. Am Tourismusbüro ließ ich mir einen Plan
geben, der mir den Weg zum Zeltplatz zeigte. Allerdings beschränkte
sich die lateinische Schrift auf die Straßennamen. Erst zwei Tage
später zeigte sich, daß der Plan doch noch zu Besitzern kam, die ihn
auch lesen konnten. Als mir nämlich zwei japanische Weltumradler
entgegenkamen, schenkte ich ihnen den Plan. Wieso sie wohl vermuteten,
daß ich Stadtpläne von Florenz in jedweder Sprache dabei hätte? Die
beiden waren fünf Monate zuvor in Hongkong gestartet und hatten
lediglich durch den Iran den Bus genommen.
Von Florenz zur Adria mußte ich den Apennin überwinden - für
Höhenmeterverständige: 100m-1070m-300m-1270m-500m alles ü.N.N. Hier
erwischte mich der einzige Regentag der Tour. Die tiefhängenden Wolken
versperrten mir die Fernsicht. Die Höhenlagen des Apennin sind
bewaldet und Wanderherbergen säumten den Weg. Vom höchsten Paß, den
Paso dei Mandrioli ging es steil hinab an schroffen Felsformationen
vorbei nach Bagno Romagna. Der Lebensmittelverkäufer meinte auf meine
besorgte Frage, ob das Wetter in Rimini auch so schlecht sei: oh nein,
nur hier in den Berge regne es, an der Adria schiene die Sonne - o
sole mio. O sole mio sah ich dann eine Stunde später in dem
Wetterbericht des italienischen Fernsehens auf dem Campingplatz:
Sturmstärke Neun in Rimini, haushohe Wellen, umstürzende Wohnwagen. Am
Morgen drauf schien die Sonne und der ganze Spuk war vergessen.
San Marino erwartete mich mittags mit einem heftig steilen
Anstieg. Die 20 km lange Abfahrt (700 Höhenmeter) nach Rimini war
dafür umso berauschender. Riminis Strände waren sprichwörtlich
leergefegt (welch Wunder). Und auf dem Zeltplatz drängte man mich
merkwürdigerweise doch sehr, mein Zelt unter der Überdachung
aufzubauen. Aber es kam kein zweiter Sturm. Am nächsten Tag kam ich
durch Cesenatico (Ziel der ADFC-Fernfahrt, vgl. Radwelt) und Ravenna,
wo es Radspuren entgegen von Einbahnstraßen gibt. An der Küste ging es
dann bis zur Po-Mündung auf einer viel (und besonders von griechischen
LKW) befahrenen Landstraße entlang - zum Glück war der Strand nie
weit. Im Po-Delta sind gar touristische Radrouten ausgeschildert. Am
Abend erreichte ich noch die Lagune von Venedig mit ihrem
türkisfarbenen Wasser.
Irgendwann kommt er. Der Heißhunger auf ein Eis. Und sei es auch erst
nach zehn Tagen Heißwetterradelns. Plötzlich war er halt da. Und welch
ein Glück - zwei Kilometer weiter war sie - die Eisdiele. Und welch
cremiges Eis gab es hier! Mich lockte ein schokoladenfarbenes Eis mit
dicken Schokostücken. Als ich dann voller Vorfreude hineinbiß,
durchfuhr mich ein Schlag - saure Lakritz. Wie kann man einem Eis nur
sowas antun?
Am drauffolgenden Tag kostete mich die Suche nach dem internationalen
Grenzübergang in
Gorizia /
Nova Gorica (Görz)
einige Zeit. Dafür konnte
ich direkt hinter der Grenze Geld wechseln. Auf meine Frage, wie denn
die Währung hieße, kam die Antwort: Dollar - Tolarjev, der slowenische
Dollar.
Auf dem Weg zum Vršičpass folgte ich dem Tal des Soča-Flusses. Dieser
schimmerte in dunkelgrüner Farbe in dem Uferbett aus weißen
Felsgestein und lud den vom Bergauffahren erhitzten Radlern zum Baden
ein. An einem Campingplatz nutzte ich die Chance. Jedoch erhielt ich
vom Platzwart auf meine Frage zunächst die erstaunte Antwort:
Schwimmen? Im Fluß? Warum er so merkwürdig fragte, wurde mir klar, als
ich die Zehenspitze im Wasser hatte. Das Wasser war gut acht Grad
warm. Aber immerhin genug für einen erhitzten Radler um zweimal
unterzutauchen und kräftig nach Luft zu japsen.
Der Vršičpass (1612 m) stellt schon eine ordentliche Herausforderung
dar. Dafür wurde der Radler auch mit der alpinen Bergwelt und guter
Fernsicht belohnt. Nach der Abfahrt hinab zum Wintersportort
Kranjska Gora (Kronau) ging es sehr steil mit 18% hinauf zum
Wurzenpaß (Korensko sedlo) an der
österreichischen Grenze. Aber dieses Maß der Steigung wurde noch
deutlich übertroffen durch das Gefälle von 26% auf der Nordseite, das
in einer Haarnadelkurve mit über 30% steiler Notausfahrt endete.
Gute 100km ging es jetzt flach an Drau und Möll entlang Richtung
Westen. Und endlich kam Schnee in Sicht. Schnee im Sommer hat für
mich einen besonderen Reiz. Nur schade, daß er in den Alpen erst
soweit oben liegt. Am 2500m hohen Hochtor der
Großglockner-Hochalpenstraße lag die Südseite in der strahlenden,
wärmenden Sonne und die Nordseite, an der Schnee lag, im Nebel. Na
dann hatte es sich wenigstens für die nächsten 30 Minuten Abfahrt
gelohnt, Stirnband, Schal und Winterhandschuhe einzustecken. Am
letzten Tag dieser erlebnisreichen Tour reizten dann weder der Thurner
Paß, Kitzbühel noch der Wilde Kaiser sonderlich. Für den Rückweg
wählte ich den Zug: von Kufstein nach München und ab dort nach Bonn
mit dem Nachtzug mit Gepäck- und Liegewagen.