Einleitung
Wenn man schon fast in Fußgängerreichweite der Alpen wohnt, die immerhin genug Anziehungskraft ausüben, um Leute von weit weg anzulocken, dann lohnt es sich ja vielleicht auch einmal wieder, dieses Gebirge nicht nur von dem Aussichtspunkt, der wirklich in Fußgängerreichweite unseres Wohnsitzes ist, sondern auch aus größerer Nähe zu betrachten. Kein Wunder, daß es mir nicht schwer fiel, eine passende Antwort zu geben, als meine siebenjährige Tochter Heidrun mich vor ein paar Tagen fragte, ob wir einmal eine kleine Wochenendradtour mit dem Tandem zusammen machen könnten. So als diffuse Idee planten wir irgendwas mit Alpen. Als ich dann die Quellgebiete des Rheins noch ins Gespräch brachte, war Heidrun zunächst etwas enttäuscht, bis sie erfuhr, daß die auch in den Alpen liegen. Der Einfachheit entschieden wir uns für den Vorderrhein und klammerten den Hinterrhein aus, wie es die Anwohner des Vorderrheins auch zu tun scheinen. Es war also auch für uns einfach "der Rhein". Ich hatte auch dem Hinterrhein mit dem San Bernardino-Paß einige Überlegungen gewidmet, aber man muß sich ja noch etwas für die nächsten Touren aufsparen.
So eine diffuse Idee war also schon geboren, irgendwie von Chur über den Oberalppaß und den Gotthardpaß nach Airolo oder so zu fahren. Der spannende Teil war nun, wie man das Tandem hinbekommt. Natürlich nehmen in der Schweiz fast alle Züge Fahrräder mit, aber es gibt oft dafür solche Haken im Eingangsbereich der Wagen, die sich für Tandems weniger eignen als für normale Fahrräder. Aber man kann es ja versuchen, notfalls hätten wir kurzfristig umdisponiert.
Anreise
Nachdem wir dieses Jahr einmal wieder den wärmsten Sommer des Jahrhunderts hatten, wie schon 1994, 1997, etliche Male in den 70er und 80er Jahren, aber diesmal nun wirklich und auch dann noch, wenn man das vorige Jahrhundert noch dazunimmt, waren die Chancen recht gut, daß wir diesmal ohne Schnee über die Alpen kommen könnten. Dennoch war am 30. August abweichend vom sonst in diesem Sommer üblichen Wetter ein bißchen Regen, Wolken und so etwas angesagt. Da hatte es doch seinen Reiz, auf die sonnige Südseite der Alpen zu fahren. Da hat man erstmal lange schönes Wetter beim Anstieg und bis man oben ist, kann das Wetter auf der Nordseite ja auch gut geworden sein. Unsere drei Züge nahmen alle das Tandem problemlos mit und das Umsteigen klappte auch jedesmal hervorragend.
Tag 1
In Airolo schien natürlich wirklich die Sonne, aber gutes Wetter auf der Südseite, schlechtes Wetter auf der Nordseite bedeutet meist auch leichten Nordwind. Und es ging gleich vom Bahnhof aus schon steil bergauf in Richtung San Gottardo. 16 Kilometer sollten es sein, bei den ca. 960 Höhenmetern also nur 6 % Steigung. Die Nationalstraße schien aber wesentlich steiler zu sein und als wir schon aus großer Höhe auf Airolo sehen konnten, hatten wir zu Heidruns Verwunderung erst gut ein Zehntel der Höhe geschafft. Gelegentlich kreuzte der Wanderweg die Straße und in seltenen Fällen gab es dabei auch eine Höhenangabe für die Wanderer. So konnten wir sehen, daß es mindestens 8 % Steigung sein mußten und wir damit eigentlich nur 12 Kilometer bis zum Paß bräuchten. Vielleicht wird es ja oben flacher oder so.
Nun gibt es einige Rennfahrer, die brettern da mit 12 km/h oder mehr hoch. Ich selbst bin immerhin früher auf das Stilfser Joch und andere Pässe mit vielleicht 6 km/h hochgefahren. Aber diesmal geht es noch etwas langsamer und wir fahren vielleicht 3-4 km/h. Dafür können wir viel von der Landschaft sehen, was Heidrun auch sehr gut gefällt. Und es ist wichtig, so langsam zu fahren, daß man es bis oben schafft.
Bis zum ersten Drittel fuhren wir auf der Nationalstraße, die hier übrigens mit der "Veloland Schweiz Route 3" gebündelt war. Dort teilte sich die Straße und es gibt die Wahlmöglichkeit, auf der Nationalstraße, die ab hier gut ausgebaut ist, weiterzufahren, oder auf der alten "Tremola" zu fahren, die teilweise noch mit Pflastersteinen belegt ist und die eine Art Museumsstraße darstellt. Nun sind diese Schweizer Pflastersteine nicht so schlecht wie manche Pflastersteinstraßen in Deutschland und bergauf ist das auch nicht so ein Nachteil wie bergab. So freuen wir uns über eine Fahrt mit ganz wenigen Autos, ziemlich wenigen Radfahrern, keinen Fußgängern und fast keinen Pferdewagen. Eine fünfspännige Kutsche kommt uns doch entgegen. Für ein paar schöne Pausen bei etwa einem Drittel und etwa zwei Dritteln der Höhe finden wir schöne Stellen. Es bleibt sonnig, aber es wird abschnittsweise sehr windig und es wird mit steigender Höhe auch ganz schön kalt. Das merken wir vor allem, als wir oben ankommen. Heidrun hilft auch gut beim Treten.
Nach und nach kommen wir in ein enges Tal und die Nationalstraße ist nicht mehr zu sehen, entweder weit weg oder im Tunnel. Dann wird das Tal wieder etwas weiter und die Straße macht viele teils kurze, teils lange Spitzkehren, die zum Teil mit ihrem Gemäuer auch schon kleine Sehenswürdigkeiten sind.
Nach etwa vier Stunden haben wir vielleicht etwas mehr als 12 Kilometer geschafft. Es müßte also noch ein Stück höher gehen und wir sehen ja auch, daß wir auf einen Berg zufahren, wo es links mitsamt den Stromkabeln irgendwie weitergehen könnte, aber rechts geht eine Straße wohl noch höher und das müßte unsere sein. Nun kommt die Linkskurve und plötzlich sind wir da. Die Seitenstraße nach rechts führt irgendwo in die Berge und ist nicht für uns. Vielleicht war die Tremola doch eine Abkürzung und dafür steiler.
Natürlich gönnen wir uns eine kleine Mahlzeit mit eine nicht ganz so kleinen Eis als Nachtisch und dann fahren wir mit voller Regenkleidung und Handschuhen auf der Nordseite in den Regen, der sich allerdings doch in Grenzen hält. Die Tremola geht noch zwei Kilometer weiter. Also bin ich offensichtlich beim vorigen Mal im Schneesturm ganz kurz vor dem Gotthardpaß umgekehrt, daß ich am Anfang der Tremola schon vorbei war, allerdings war ich damals auf der Nationalstraße gefahren, denn die Pflastersteinstraße hatte man nicht geräumt.
Die Abfahrt nach Hospental ging schnell und anscheinend sind die Felgen dabei auch nicht zu heiß geworden, denn wir kamen auch glatt über die etwas flachere Strecke bis nach Andermatt durch. Der heiße Sommer wirkte sich insoweit schon aus, daß tatsächlich diesmal kein Schnee fiel. Heidrun hatte auch an der Abfahrt Freude.
In Andermatt sollte nun der Oberalppaß beginnen. Aber es war schon fast 18:00 und wir hätten wohl noch ca. 2 1/2 Stunden nach oben gebraucht, so daß es etwas spät geworden wäre, um auf der anderen Seite eine Zeltplatz zu suchen. In Andermatt zu zelten war wiederum etwas früh und hätte uns für den nächsten Tag eine zu lange Strecke gelassen. So sahen wir uns einmal den Bahnhof von Andermatt an. Es gibt ja in dieser Gegend der Alpen ein recht umfangreiches Netz an Schmalspurbahnen, das in den letzten Jahrzehnten auch noch durch einige größere Tunnelbauten erweitert worden ist. Aber wenn schon die großen Züge auf Normalspur oft kein Tandem mitnehmen, war meine Hoffnung bei diesen kleinen Schmalspurbahnen ehrlich gesagt nicht allzugroß.
Doch überraschenderweise stand da im Bahnhof ein Zug mit einem Mehrzweckwagen, der für Post, Fahrräder und andere Dinge geeignet schien. Und der sollte um 18:25 über den Oberalppaß fahren. Es stellte sich heraus, daß dieser Fahrradwagen nicht während der Fahrt von unserem Sitzwagen aus erreichbar war, aber die Eisenbahner sahen da kein Problem, daß wir in Ruhe aussteigen, das Tandem ausladen und losfahren. Wir mußten nur noch sagen, wo wir aussteigen wollen und der Kondukteur beriet uns noch über die günstigste Möglichkeit zum Aussteigen und zur Weiterfahrt u.s.w. Nebenbei kostete uns diese Fahrt nichts, da wir für mich eine Jahresnetzkarte hatten, mit der ich normalerweise nach Zürich fahre. Für Heidrun und die hintere Hälfte des Tandems hatten wir einen Juniorpaß. Und für die vordere Hälfte des Tandems einen Velopaß. Alles Fixkosten, keine variablen Kosten. Wie sich später herausstellt, war dies der letzte Zug an dem Tag und er fuhr nur noch bis Disentis, nicht mehr bis Chur.
Mit Zahnradantrieb ging es in einer wahnsinnigen Steigung mit ziemlichem Tempo, bestimmt doppelt so schnell wie wenn wir selber gefahren werden, auf den Berg und kurz hinter dem Oberalppaß stiegen wir in Tschamut aus. Ein kleiner Bach floß unten im Tal und das war jetzt der Rhein. Mit ein bißchen Gefälle und auch etwas flacheren Abschnitten kamen wir bald durch Sedrun, wo der Gotthardbasistunnel einen Kilometer unter der Erde gebaut wird. In Disentis war unser Zug schon angekommen und wir machten uns auf die Suche nach dem Zeltplatz. In dieser Gegend war eigentlich die Rhätoromanische Sprache angesagt, aber die Leute konnten doch meistens auch sehr gut Deutsch und freundliche Leute zeigten uns den Weg zum Zeltplatz, der nochmal einen guten Kilometer aus dem Ort runter zum Rhein führte, der hier immer noch ein kleiner Bach war. Man kann sich das merken, indem man in Richtung Lukmanierpaß fährt.
Tag 2
Der Zeltplatz war sehr gut ausgestattet, wie wir es sonst fast nur aus Skandinavien kennen. Es gab eine Küche, eine Waschmaschine und so etwas, aber wir brauchten diesmal nicht so viel davon.
Am nächsten Morgen waren wir um 10:20 wieder am Losfahren. Heidrun meinte noch, daß wir den ziemlich steilen Weg vom Zeltplatz zurück nach Disentis nun locker schaffen würden, wenn wir schon den Gotthardpaß geschafft haben. So ähnlich war es auch. Von nun an sollte es eigentlich immer bergab gehen, weil wir ja dem Rhein bis Chur folgen wollten. Das müßten wir locker schaffen. Bis Illanz stimmte das auch so ungefähr, wenn es auch oft stattdessen flach war. Gelegentlich wechselten wir die Seiten und irgendwo kurz vor Illanz überholten wir sogar noch einen Radfahrer aus den Niederlanden, der in Disentis neben uns gezeltet hatte, nachdem er eine lange Zeit immer vor uns war und seinen Vorsprung teilweise wieder vergrößerte. Kurz danach überholte er uns wieder und wir sahen ihn dann wieder, als er uns in Illanz von einer Brücke aus fotografierte.
Bis Illanz haben wir uns an der N 19 orientiert, weil die hier verlaufende Veloland-Schweiz-Route V 2 hier entweder sowieso mit der N 19 gebündelt war oder über Sandwege verlief. Von Illanz nach Chur sollte es sich aber lohnen, der Veloland-Route V 2 zu folgen, weil die N 19 über einen erheblichen Berg bei Flims gehen soll, für den es immerhin Schilder gab, die Anzeigten, daß diese Route zur Zeit befahrbar sei, während die Veloroute auf der anderen Seite flacher und kürzer und auch asphaltiert zu sein schien.
Die Brücke, auf der unser Zeltnachbar stand, war jedenfalls richtig, während wir unten durch fuhren und erst als Illanz vorbei war, eine Gelegenheit kam, die N 19 zu verlassen. Wir machten erst einmal eine kleine Mittagspause am Rhein und fuhren dann parallel zur N 19 zurück, um über die Brücke zu fahren und dabei die Straße und auch noch den Rhein zu überqueren.
Tatsächlich kamen dann auch weiße Schilder nach Chur, wenn es auch nicht mehr unbedingt kürzer war. Aber flacher sollte es vielleicht noch sein, denn es kam ein Zusatzhinweis zu der Velolandroute, daß diese auf 9 km um 240 m ansteige. Das sollte nicht zu steil sein und es war auch immer noch der bequemere und vielleicht auch leisere Weg als über Flims.
Tatsächlich wurde das Rheintal ganz eng und die Straße kletterte langsam und streckenweise auch etwas schneller am Hang hoch und auch gelegentlich etwas weg von den engsten Stellen des Tals. Wir hatten eine wunderbare Strecke. Nach jenem höchsten Punkt ging es in engen Serpentinen durch den Wald und über eine ziemlich hohe Brücke über einen Rheinzufluß. Dann stieg die Straße wieder gelegentlich etwas an und wir fuhren durch eine Felsformation, gelegentliche kleine Tunnel und Einschnitte, aber doch immer in der Nähe des Rheins. In dieser Gegend machten wir an einer besonders schönen Stelle noch eine kleine Pause.
Bald kamen wir in die Gegend, wo sich der Vorderrhein und der Hinterrhein vereinigen. Hier folgten wir der N 13 bis nach Chur. Jetzt gab es eigentlich zum ersten Mal auf der Tour etwas mehr motorisierten Verkehr. Die kleine Schmalspurbahn hatte sich mit einer anderen Strecke vereinigt und war jetzt auch zweigleisig. Parallel zum Rhein kamen wir durch ein paar Orte nach Chur, das sich schon eine Weile vorher erkennen ließ, vor allem weil wir auf einen Berg zufuhren, an dem die Straße, die Bahnstrecken und auch der Rhein wohl links vorbeiführen, wo aber nach rechts das Seitental nach Arosa abzweigen dürfte.
Nun war noch die letzte Herausforderung, in Chur den Bahnhof zu finden. Es bot sich an, dafür nicht zu viel Zeit zu brauchen, weil in etwa einer Viertelstunde ein Zug fahren sollte. Ob der nun Tandems mitnahm, wollten wir ja gerne überprüfen. Es stellte sich als einfach heraus, den Bahnhof zu finden. Denn die Schmalspurbahn nach Arosa fährt wie eine Straßenbahn durch Chur und wir mußten nur bis zu diesen Gleisen fahren und ihnen folgen.
Rückreise
Auf Gleis fünf sollte ein Zug nach Zürich fahren. Die Treppen und Rolltreppen waren nicht so gut zu brauchen und der Fahrstuhl war auch viel zu kurz für das Tandem. Aber ein Eisenbahner sagte uns gleich, daß wir durch den verbotenen Tunnel gehen dürften, der sonst für diese Elektrokarren mit dem Gepäck und der Post gedacht ist.
Zufällig nahm auch dieser Zug Tandems mit und es war noch ein besonders schneller Zug, der nur einmal unterwegs hielt und lange vor der Abfahrt unseres letzten Zuges in Zürich ankam. Daß der Tandems mindestens an Werktagen mitnahm, wußte ich, aber zum Glück war das auch an diesem Sonntag so. Dummerweise wurde der Zug erst bereitgestellt, als der etwas langsamere Alternativzug mit Umsteigen in Winterthur, der uns sicher mitgenommen hätte, gerade abfuhr.
Witzigerweise trafen wir in dem Zug von Zürich nach Schaffhausen den Rest der Familie, die an diesem schönen Sonntag einen kleinen Ausflug nach Zürich gemacht hatten.
Fazit
Auch die kleinen Radtouren lohnen sich, vor allem, wenn man mit dem Zug so gut in die Alpen fahren kann.