Einleitung
Im Jahr 2005 ergab es sich, daß ich Frühjahr eine Fahrradtour mit meinem Sohn machen konnte, bei der wir das Tandem verwenden wollten. Diesmal sollte sie uns durch die nordöstlichen Teile von Mitteleuropa führen, genauer von Litauen nach Deutschland.
Anreise
Ein Nachtzug brachte uns mit dem Tandem nach Kiel, von wo wir mit einer Fähre nach Memel (Klaipeda) fahren konnten. Diese Fähre war natürlich ein ganz besonderes Erlebnis, denn sie hatte als Frachtfähre etwa die Größe der Stenafähren, die von Kiel nach Göteborg verkehren, aber es waren nur etwa 50 Fahrgäste auf dem Schiff. Das Schiff fuhr in Kiel im Ostuferhafen ab. So war man als Fahrgast noch regelrecht ein Exot und diesmal war es wirklich erwünscht, mindestens zwei Stunden vor der Abfahrt des Schiffes am Hafen zu sein. Wie sich herausstellte, reichten auch 1½ Stunden durchaus aus. Erst einmal mußte man es schaffen, am Pförtner vorbei in das Hafengelände zu kommen. Irgendwo in einer Baracke war die Zollabfertigung, in einem Gebäude irgendwo in der Nähe konnte man die Fahrkarten kaufen und lernte dann auch schon die ganzen Fahrgäste kennen. Zum Schiff durfte man nicht einfach hinfahren, sondern wir mußten neben diesem Gebäude warten, bis ein Kleinbus für die Fahrgäste ohne Fahrzeug kam, in dessen Begleitung uns das Befahren des Hafengeländes gestattet wurde. Auf dem Schiff bekamen wir dann sogar eine Kabine zu zweit und es sollte am nächsten Tag irgendwann Frühstück geben. Den größten Teil des Weges schien die eine oder andere Küste in Sicht zu sein.
Am nächsten Tag kamen wir um die Mittagszeit in Memel (Klaipeda) an. Schon eine Weile vorher konnte man die Kurische Nehrung (Kuršių Nerija / Куршская коса) sehen und wir fuhren noch ein Stück durch das Kurische Haff (Kuršių Marios / Куршский залив) bis zum Hafen.
Tag 1: 2005-04-12 (2)
Nachdem wir das Schiff verlassen hatten, fuhren wir noch ein Stück durch den Hafen und kamen bald durch die Paßkontrolle, die allerdings noch real war und eine Weile dauerte. Dann ging es in einem großen Bogen neben Bahngleisen um die südlichsten Hafenbecken herum, bis uns eine Rampe auf eine Querstraße führte, wo wir nach Überquerung der Bahngleise auf die Stadt zufuhren. Gerade am Stadtrand führte eine vierspurige Straße nach rechts weg, die an mehrstöckigen Wohnhäusern vorbeiführte und dann plötzlich in eine winzige Straße überging, die mit vielen Kurven durch ein kleines Dorf und über einen Bahnübergang führte. Dann waren wir auf einer Allee, die wohl schon vor vielen Jahren die Verbindung von Memel (Klaipeda) nach Heydekrug (Šilutė) herstellte. Aber schon nach wenigen Kilometern kam eine Auffahrt auf die vierspurige N 141. Wie in Schweden oder in Nordamerika hatte diese vierspurige Straße einen sehr breiten Mittelstreifen. Der Verkehr schien langsam abzunehmen, und nach etwa 10 Kilometern wurde die N 141 zweispurig. Am späten Nachmittag kamen wir nach Heydekrug (Šilutė), das wir uns gerne ansehen wollten, so daß wir nicht die Umgehungsstraße wählten.
Als wir wieder auf die N 141 kamen, wollten wir uns langsam nach einer Übernachtungsmöglichkeit umsehen. Wie so oft auf dieser Reise kamen so viele Hotels und Pensionen, daß wir zu der Annahme gelangten, daß es daran keinen Mangel geben dürfte und wir uns so gegen 20:00 litauischer Zeit immer noch bequem danach umsehen könnten. Wir kamen in dieser Gegend noch durch einige kleinere Orte, und obwohl es mit den Übernachtungsmöglichkeiten langsam dünner wurde, fanden wir doch zu einer guten Zeit abends ein kleines Hotel in Mädewald (Usėnaii).
Tag 2: 2005-04-13 (3)
Östlich von Mädewald (Usėnaii) kam bald die Querstraße von Tilsit (Советск) nach Tauroggen (Tauragė). Kurz danach konnten wir auf einem etwas höher gelegenen Ort eine Pause einlegen, die uns einen Blick auf das etwa 6 km entfernte Tilsit (Советск) erlaubte. Nun wurde die Gegend einsamer und es kamen nur noch wenige Orte. Auch das Verkehrsaufkommen war entsprechend gering. Die Straße war über lange Strecken eine Allee, zum Teil aber auch eine lange Umgehungsstraße für die paar Orte, die es in der Gegend noch gab. In Jurburg (Georgenburg / Jurbarkas) konnten wir einkaufen und auch bei der Touristeninformation Erkundungen über die Straßen nach Süden und die Übernachtungsmöglichkeiten einholen. Gemäß Karte hätte es eine sehr direkte Straße in der Nähe der Grenze gegeben, aber es stellte sich heraus, daß das wohl eher ein holperiger Sandweg sein würde, so daß wir wie ein langgestrecktes Z erst nach Südosten, dann nach Südwesten und danach wieder nach Südosten fahren mußten, um nach Wilkowischken (Vilkaviškis) zu kommen. Zunächst überquerten wir die Memel (Nemunas / Неман). Eine Gruppe von jungen Männern überholte uns auf den nächsten paar Kilometern immer wieder mit ihrem Auto und wartete dann auf Randstreifen darauf, von uns wieder überholt zu werden. Wir hielten dann aber irgendwann kurz vor ihnen bei einer Tankstelle, um einen Kaffee zu trinken, was ihnen anscheinend doch zu lange dauerte.
Diese Gegend hier war mit Ausnahme von sehr kurzen Zeiten im 14ten Jahrhundert immer litauisch, wobei Litauen teilweise in der einen oder anderen Form als unabhängiger Staat oder unter dem Dach eines polnischen oder russischen Staatswesens existierte. Die Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion ist ja außerhalb des Warschauer Pakts von fast keinem Staat der Welt anerkannt worden, wie man sich plötzlich 1990 wieder erinnerte. Die meisten Häuser und Kirchen und Dörfer und Alleen waren auch in einem anderen Stil gebaut als dies in Ostpreußen üblich war. Aber immer wieder fand sich ein einzelnes Backsteinhaus dazwischen, als hätte es sich ein paar Kilometer über die Grenze verirrt. Gab es hier eine Vermischung der Baustile? Oder eine Art Übergangszone? Haben Litauer sich Häuser im deutschen Stil bauen lassen, weil ihnen das gefiel? Oder haben Deutsche sich ein Haus in Litauen gebaut? Auch in den Jahrhunderten, also es noch kein Schengen-Abkommen gab und man sich Reisen nicht leisten konnte, müssen die Grenzen doch immer irgendwie für Menschen oder Häuser oder Ideen durchlässig gewesen. Oder es gab typisch litauische Baustile, die in dieser Gegend nur sporadisch vorkamen und die für uns Laien so aussahen wie alte deutsche Häuser aus Ostpreußen. Aber das ist wohl ein längeres Kapitel.
Alleen gab es in dieser Gegend auch, aber dann waren es eher zwei Baumreihen, die sehr dicht beieinander standen und ein Stück weg von der Straße. Vielleicht war die Allee früher ganz schmal und man hat später die Straße ein paar Meter daneben gebaut, um genug Breite hinzubekommen? Naja, das war in dieser Gegend von Litauen auch eine seltene Ausnahme, aber 2005 waren im Memelland, in Ostpreußen, Westpreußen, Pommern noch fast alle Straßen Alleen. Schon 2008 hatte sich das geeändert und 2016 werden Alleen dort wahrscheinlich genauso selten sein wie in den westlichen Bundesländern in Deutschland.
Abends kamen wir nach Wilkowischken (Vilkaviškis) und übernachteten im selben Hotel, wo ich schon 2003 geschlafen hatte.
Tag 3: 2005-04-14 (4)
Ein geheimnisvoller Ort war Wirballen (Virbalis), weil es wohl früher am Ende der Welt oder sogar jenseits dieses Endes gelegen haben muß, dabei ging die Welt auf der Seite der Grenze ja weiter. Das war und ist der litauische Grenzort, auf den man trifft, wenn man von Königsberg (Калининград) nach Osten fährt. Da fuhren wir jetzt auf der A 7 hin und bogen dann nach Süden ab. Die Straße folgte jetzt ungefähr dem Grenzverlauf, der auf der anderen Seite eines kleinen Flusses abgesteckt war. In Wystiten (Vištytiss) fanden wir einen See, wo man gut baden konnte. 10 km südlich von diesem Ort wollten wir übernachten, aber da es damals und auch heute (2010) noch keine Grenzübergänge und nicht einmal Straßen zu geben schien, die diese Verbindung einigermaßen direkt herstellen, mußten wir ungefähr 100 km über den westlicheren der beiden Grenzübergäng von Litauen nach Polen fahren.
Erstmal waren diese 90 km Umweg kein Grund traurig zu sein. Wir hatten doch noch genug Zeit dafür, weil wir diesen Weg schon eingeplant hatten. Und es war ja doch einen sehr schöne Strecke, durch Wald und Heide und ein bißchen hügelig. Die letzten 10 km vor der Grenze fuhren wir dann auf der Via Baltica (A 5) mit den ganzen Lastwagen, die natürlich auch alle diesen Grenzübergang benutzen. An der Grenze gab es 2005 schon noch Kontrollen, aber nur noch in stark vereinfachter Form. 2003 hatte der Grenzübertritt noch ungefähr eine 3/4 Stunde gedauert und der Paß wurde dabei ungefähr fünfmal an verschiedenen Stationen kontrolliert, jetzt gab es nur noch eine Station, wo die litauischen und polnischen Zöllner zusammen standen. 2008 war dann gar keine Grenzkontrolle mehr, weil beide Länder dem Schengenabkommen beigetreten waren. Aber das war jetzt alles noch in weiter Ferne. Auf der polnischen Seite wurde die Straße viel hügeliger und kurviger. Schon in Szypliszki verließen wir sie wieder und bogen nach Westen ab in Richtung Rominter Heide (Puszcza Romincka) und Goldap (Gołdap). Hier kamen wir über eine der schönsten Strecken. Es war ein bißchen hügelig, aber die Hügel wurden immer höher, wohl um die 300 m. So hatten wir recht steile Auf- und Abfahrten, schöne Aussicht, Täler mit schönen Flüßchen und sogar einen kleinen Stausee gab es.
Gegen Abend kamen wir dann in das südliche Ostpreußen. Die Landschaft war jetzt eher waldig, aber wie schon auf der litauischen Seite ein typischer Heidewald. Man konnte den Sandboden ahnen und die Bäume waren oft Kiefern und vielleicht Birken. Diese Gegend nennt man Rominter Heide (Puszcza Romincka oder Роминтенская пуща), aber wie die Lüneburger Heide besteht sie hauptsächlich aus Wald. Eigentliche Heideflächen sind ja eine Kulturlandschaft, die wieder mit Wald zuwächst, wenn man das nicht durch extensive Beweidung verhindert. Wir fragten nach einem Hotel und es sollte auch eines geben, aber das kam und kam nicht. Jetzt fing es auch noch an zu schneien. Statt lange nach dem Hotel zu suchen, daß es nachher sowieso nicht gab, nutzten wir die Gelegenheit, an einer schönen Stelle im Wald das Zelt aufzubauen und dort zu schlafen. Der Schnee ist übrigens ganz schön laut, weil auf die Zeltfläche dauernd Schneeflocke auftreffen und immer einen leisen Ton machen.
Tag 4: 2005-04-15 (5)
Am nächsten Morgen war schon wieder Tauwetter und der Schnee war bald weg. Das Hotel kam natürlich tatsächlich nach ein paar Kilometern. Bald kamen wir nach Goldap (Gołdap). Es verschiedene Bahnstrecken, die hier auf eindrucksvollen Dämmen verliefen und sich beim Bahnhof Goldap trafen. Wir unterquerten die Bahndämme mit Unterführungen. Wie es aussieht, fahren dort heute keine Züge mehr.
Wir fuhren jetzt ziemlich im Norden, nahe an der Grenze durch Angerburg (Węgorzewo) und wollten weiter in Richtung Korschen (Korsze). In Barten (Barciany) versuchten wir, eine Übernachtung zu finden oder herauszufinden, ob es vielleicht in der Nähe des Ortes oder in Korschen so etwas gäbe. Aber das ist ja alles heute Grenzregion, wo nicht viel los ist, außer in touristisch attraktiven Orten wie Angerburg. Eine nette polnische Familie fragte noch ein bißchen herum und sie luden uns sogar noch zum Kaffee ein. Letztlich kam heraus, daß die beste Möglichkeit in Rastenburg (Kętrzyn) zu finden sei, wo es ein Hotel Koch gebe. Das war tatsächlich ein ganz schickes Drei-Sterne-Hotel mit gutem Frühstück, guten Zimmer und guten Betten, aber weil Nebensaison war, kostete es sehr wenig. Das soll sich aber heute geändert haben, sie nehmen jetzt wohl auch bei geringerer Auslastung Drei-Sterne-Preise oder sie haben die Saison sehr erweitert.
Tag 5: 2005-04-16 (6)
Wir wollten uns jetzt Löwenstein (Lwowiec) anschauen. Dort waren die Großeltern meiner Mutter früher Bauern. Der Ort liegt heute schon etwas abgelegen, und wir mußten immer wieder auf noch kleinere Straßen abbiegen und nach Nörden fahren, bis wir in der Ferne den Kirchturm von Löwenstein sehen konnten. So konnten wir auch das Haus finden, wo meine Urgroßeltern und zeitweise meine Großeltern und meine Mutter gewohnt hatten.
Von Löwenstein (Lwowiec) fanden wir eine schöne (sowieso ruhige) Straße durch den Wald nach Schippenbeil (Sępopol). Das war ein etwas größeres Städtchen mit einem Fluß in der Mitte. Wir kamen auch nach Bartenstein und dann fuhren wir auf derselben Straße wie ich 2003 nach Westen weiter. In Tolk (Tolko) fanden wir den Ort, wo ich in Wirklichkeit hätte abbiegen sollen um nach Petershagen (Pieszkowo) zu fahren, aber jetzt wollten wir lieber direkt nach Landsberg (Górowo Iławeckie) fahren. Dort merkten wir, daß es langsam dunkel wurde. Insgesamt hatten wir damit auf der ganzen Tour relativ wenige Probleme. Im April wurde es zwar noch relativ früh dunkel, aber wir hatten wegen Litauen die Uhr auf die dortige Zeitzone umgestellt und jetzt darauf verzichtet,sie zurückzustellen. Dadurch nutzten wir die Helligkeit des Tages besser aus, soweit es sich machen ließ.
Die Straße von Landsberg nach Mehlsack (Pieniężno) war wie ein Hohlweg, nicht nur eine Allee, sondern richtig zugewachsen und es scheint jetzt aus der Erinnerung 6 Jahre später, als wäre sie auch in einem Graben gelaufen und leicht bergab. Der Asphalt war nicht so gut, aber es ging noch. In Mehlsack suchten wir eine Übernachtung. Letztlich fanden wir die bei Ukrainern. Das war noch interessant, weil wir jetzt endlich erfuhren, was es mit den Ukrainern in Ostpreußen auf sich hatte. Man sprach immer davon, daß die heutigen Bewohner dieser Gegend häufig Ukrainer seien. Aber niemand wollte jemanden getroffen haben, der auf der Landkarte zeigte, daß er aus der Ukraine kam und es war auch etwas unlogisch. Die kÜbergangszone zwischen der Ukraine und Polen, in der beide Volksgruppen in größerer Zahl vorkamen, hatte seit den 20er Jahren komplett zu Polen gehört. Nach dem zweiten Weltkrieg kamen diese Gebiete zur Sowjetunion, als Ausgleich dafür wurden Teile von Ostpreußen, Pommern und Schlesien unter polnische Verwaltung gestellt, später annektiert und in den 2+4-Verträgen als neue Grenzziehungen allgemein anerkannt. Nun waren also größere Gebiete in der damals sowjetischen Ukraine gelandet, die eine polnische Bevölkerungsgruppe hatten. Daß diese nun umgesiedelt wurde nach Pommern, Schlesien und Ostpreußen hätte dort noch keine Ukrainer hingebracht. Und daß jetzt mit den Polen zusammen Ukrainer aus dem emaligen Ostpolen von der Ukraine weg dorthin gezogen wären, klingt unwahrscheinlich. Anscheinend gab es aber auch im heutigen polnischen Staatsgebiet noch eine kleine ukrainische Minderheit, die in der Nähe der Grenze zwischen Polen und der Ukraine lebten. Diese Ukrainer wurden jetzt von dort umgesiedelt und einige kamen in den südlichen Teil von Ostpreußen.
Tag 6: 2005-04-17 (7)
Irgendwie fuhren wir nach Nordwesten bis nach Braunsberg. Die Strecke von Braunsberg (Bŕaniewo) nach Frauenburg (Frombork) war wie 2003 eine schöne Alle, die leicht erhöht durch eine Gegend mit vielen Feuchtgebieten verlief. In Frauenburg hat Nikolaus Kopernikus gewirkt. Von da ab fuhren wir meistens am Frischen Haff (Zalew Wiślany / Калининградский залив) enthang bis nach Elbing (Elbląg). Man konnte an dem Tag gut bis zur frischen Nehrung (Mierzeja Wiślana / Балтийская коса) sehen, obwohl das Haff ja recht groß war. Jetzt waren wir in Westpreußen.
Elbing (Elbląg) war eine Großstadt mit Straßenbahnen. Wir kamen relativ gut in die Stadt herein. Auf der weiteren Fahrt nach Marienburg (Malbork) hatten wir ungewöhnlich viel Verkehr, dabei waren wir doch bis auf das kurze Stück vor und nach der polnisch-litauischen Grenze und die Fahrt in der Nähe von Memel sehr verwöhnt. In Marienburg fanden wir ein Hotel in der Nähe der Marienburg.
Tag 7: 2005-04-18 (1)
Morgens warfen wir noch einen kurzen Blick in die Marienburg und fuhren dann weiter nach Westen. In Dirschau (Tczew) nahmen wir die alte Brücke über die Weichsel. Diese Brücke ist heute ein Sammelsurium aus Brückenkonstruktionen von verschiedenen Zeiten, aber im Mittelteil hat man ein sehr feines Geflecht von Verstrebungen, die auf der Fahrbahn wirklich eine deutliche Verdunklung durch ihren Schatten hervorrufen, was man sonst auf Brücken kaum in dem Maße erlebt. Einige der Brückenpfeiler sehen aus wie Burgtürme. Die Gegend von Marienburg bis Dirschau war flach und grün mit vielen Entwässerungsgräben und Deichen, ungefähr so wie man es von der Nordseeküste kennt. Man sagt, daß hier im 16. Jahrhundert Mennoniten aus den Niederlanden gelebt haben und diese Gegend für die intensive Landwirtschaft erschlossen haben.
Nach Dirschau stieg die Straße ein bißchen an und wir kamen durch etwas höher gelegenes und etwas hügeliges Land. Alleen waren auch in Westpreußen die üblichen Straßen, was praktisch war, da wir bei Pausen immer eine Möglichkeit fanden, unser Tandem an einen Baum anzulehnen. Man denkt immer, daß Westpreußen so ein schmaler Streifen ist, wenn man alte Landkarten sieht, aber in Wirklichkeit war dieser Streifen ganz schön breit. Wir fuhren den ganzen Tag mal durch hügeliges Gelände und mal durch flacheres Gebiet mit Kiefernwäldern und wahrscheinlich sandigen Böden. Am Abend waren wir in Pommern und in einer Gegend, wo es wieder hügelig war und die Straße sehr kurvig. Es war eine der schöneren Teilstrecken auf der Tour. Als es Zeit für eine Übernachtung wurde, schauten wir uns um und fanden ein "Agroturist". Auf Anfrage hatten die zwar keine Saision, aber sie nahmen uns trotzdem für eine Nacht.
Tag 8: 2005-04-19 (2)
Unsere Straße wendete sich etwas nach Süden, vielleicht kamen wir deshalb plötzlich in den Frühling. Die ganze Zeit hatten die Bäume nur Knospen, jetzt plötzlich sahen wir so ungefähr in Neustettin überall kleine grüne Blätter und es dauerte nicht lange, bis alles grün war. Jetzt seht Ihr also, warum das eine Reise in den Frühling war.
Eine Besonderheit auf dieser Tour waren die Hundchen. Im Ostpreußischen Dialekt verwendet man für die Verkleinerungsform keine Umlaute, daher nicht "Hündchen", sondern "Hundchen". Wir sind ja alle einmal genervt von aggressiven Hunden und es gibt auch schon einmal Unfälle, vor allem für Briefträger und Zeitungsausträger und vielleicht auch mal für Einbrecher. Aber normalerweise achten die Besitzer in Deutschland und in der Schweiz doch darauf, daß ihr Hund keine anderen Leute angreift, vielleicht sogar darauf, daß der Dreck nicht auf dem Fußweg liegen bleibt. In Polen und Litauen war es aber so, daß uns auf der Straße immer mehr oder weniger aggressiv wirkende Hunde entgegen und hinterher liefen. Mit dem Tandem hatte sich dafür eine recht effektive Arbeitsteilung zwischen Bernhard und mir entwickelt. Ich steuerte uns aus der Gefahrenzone heraus und Bernhard kümmerte sich um die Hundchen und verscheuchte sie. Das hat sich auf der ganzen Reise gut bewährt. Aber einmal war das Hundchen, das uns begegnete, erstaunlich zahm. Es lief sogar wieder weg, ohne uns groß anzugreifen oder auch nur anzubellen. Wir scherzten schon, daß er jetzt Verstärkung holt. Und tatsächlich, wenig später kam dasselbe Hundchen mit einer ganzen Meute Hunde und war jetzt gleich viel weniger zahm als bei der ersten Begegnung. Letztlich sind wir ohne Bißwunden und ohne zu große Verluste auf Seiten der Hunde aus der Situation herausgekommen, indem wir uns auf unsere bewährte Vorgehensweise für Hunchen verlassen haben.
Nun fuhren wir also durch blühende und grüne Landschaften, betont dadurch, daß auch im polnischen Teil von Pommern fast alle Straßen damals noch Alleen waren. Wir kamen durch eine wasserreiche Gegend mit vielen Flüssen und Seen. Am Abend waren wir in Falkenberg (Jastrzębniki (Sławoborze)), wo wir ein einfaches, aber nettes Hotel in der Nähe eines Flusses finden konnten.
Tag 9: 2005-04-20 (3)
Das Wetter war bis auf den Schnee in der Rominter Heide eigentlich meistens eher trocken und oft sonnig gewesen. Wir haben durchaus Sonnencreme verwendet. An diesem Tag sollte es nun aber doch einmal ein bißchen regnen, aber nicht zu lange. Wir näherten uns Stettin (Szczecin). Ungefähr 40-50 km vorher sahen wir einen großen Damm, den wir mit einem kleinen Tunnel unterquerten. Es war keine Bahnstrecke und auch keine Straße oben, nur einfach so ein in die Landschaft geschütteter Damm. Auf der anderen Seite bogen wir rechts ab und machten dann oben auf dem Damm eine Pause. Das Ding war mindestens 30 Meter breit und es gab oben eine Feld- oder Waldweg und einige niedrige Bäume, die langsam einen Wald bildeten. Natürlich schon mit Blättern, das blieb uns seit dem vorherigen Tag erhalten. Nach der Pause führte unsere Straße, die eine kleien dreistellige Nationalstraße war, auf den Dammm und war ein kleines Sträßchen. Nun war es spätestens klar, daß hier ein größenwahnsinniges Reichsautobahnprojekt in Bau war und nie fertiggestellt worden war. In diesem Abschnitt hatte man zunächst nur die Hälfte der südlichen Fahrbahn und die Brücken fertiggestellt. Das Verkehrsaufkommen war auch sehr gering, aber in den alten Landkarten war das schon als Reichsautobahn eingetragen. Man konnte sehen, daß die Trasse für sechs Spuren und zusätzlich noch Randstreifen ausgelegt war. Je näher wir an Stettin kamen, desto mehr Verkehr gab es und desto breiter wurde die Straße, erst wurden es zwei breite Spuren und dann waren es vier Spuren, die aber komplett auf der eine Seite des Mittelstreifens Platz fanden. Kurz vor Stettin wurde die Straße dann unter Benutzungs des Mitteltreifens vierspurig, immer mit genug Platz für weitere Spuren und Randstreifen und wir kamen auf eine sehr merkwürdig umgebaute Auffahrt und fuhren jetzt auf einer kleineren Straße durch die östlichen Randgebiete von Stettin nach Süden bis zu einer Brücke.
Stettin (Szczecin) selbst war nicht die schönste Strecke auf der Tour, wir hatten einfach über viele Kilometer sechsspurige Straßen mit ein paar Ampeln, ein paar Pflastersteinabschnitten und sehr viel Verkehr. Am westlichen Stadtrand wurde der Verkehr wieder weniger und die Straße auch kleiner. Wir kamen noch durch viele Dörfer, wo man angeblich billig einkaufen konnte. Jedenfalls konnten wir noch sehr leckere Äpfel kaufen, ich weiß nicht mehr, wie billig die jetzt waren.
Am Abend kamen wir über die Grenze. Natürlich waren wir danach immer noch in Pommern, genauer gesagt in Vorpommern, was natürlich zu Mecklenburg-Vorpommern gehört. Die Straßen waren natürlich weiterhin fast immer Alleen und wo man die Alleebäume für Straßenverbreiterung gefällt hatte, wurden anscheinend neue gepflanzt. Das sollte jetzt bis zum Schluß der Tour so bleiben. Wir fanden in Löcknitz einen Zeltplatz. Da noch nicht Saison war, war die ganze Infrastruktur nur teilweise in Betrieb und es gab noch keine Duschen.
Tag 10: 2005-04-21 (4)
Irgendeine Route mußten wir nun durch Mecklenburg-Vorpommern finden. Einerseits hatten wir nicht so große Lust auf große Städte wie Rostock, Schwerin und Neubrandenburg, andererseits versprach eine etwas südlichere Route durch die Mecklenburger Seenplatte interessant zu werden und so machten wir noch einen kleinen Bogen nach Süden über Neustrelitz. Der Verkehr war auf den Straßen auch hier noch angenehm wenig. Am Vormittag hatten wir noch etwas Gegenwind.
Unterwegs muß man immer mal wieder die Wäsche waschen. Das hatten wir ein bißchen aufgeschoben, aber jetzt mußte es doch sein. Bernhard hatte völlig gerechtfertigt vorgeschlagen, das in Polen zu günstigen Preisen machen zu lassen, aber irgendwie haben wir es dann doch erst hier Pasewalk in Vorpommern versucht. Erstmal mußten wir Passanten finden, denen wir Kenntnisse über die allfällige Existenz einer Wäscherei zutrauten. Das gelang und recht schnell und zufällig war die Wäscherei nur ein paar 100 Meter von der Stelle entfernt, wo wir die wissende Passantin getroffen hatten. Man sagte uns gleich, daß es ungefähr eine Woche dauern würde, bis wir die Wäsche zurückbekommen. Als wir dann der freundlichen Dame in der Wäscherei erklärten, daß wir eigentlich am selben Tag weiterwollten, bot sie uns an, daß die Wäsche in 3 Stunden gewaschen und getrocknet sein könnte. So konnten wir uns noch die schöne Innenstadt ansehen, etwas einkaufen und dann waren wir rechtzeitig wieder in der Wäscherei. Nun waren die Sachen doch noch nicht fertig, dafür bekamen wir aber noch etwas Kuchen und so lange dauerte es dann auch nicht mehr.
Am späten Nachmittag kamen wir bei Neustrelitz wieder eher durch eine Gegend mit Sandböden und Kiefernwäldern, wo es Heide geben könnte, aber die Heiden sind ja heute meistens wieder näher an die bewaldete Naturlandschaft zurückgekehrt. Abends gab uns jemand eine Empfehlung, wie wir den etwas abgelegenen Zeltplatz finden könnten. Wir fuhren auf kleinen Pflasterstein- und Asphaltstraßen, die teilweise als Veloroute Berlin - Kopenhagen ausgeschildert waren, nach Groß Quassow. Da fanden wir einen riesigen Zeltplatz mit Schranke an der Rezeption und wir bekamen aufladbare Plastikchips für die Dusche. Der Zeltplatz war sehr schön an einem See gelegen und hatten überall schattenspendende Bäume.
Tag 11: 2005-04-22 (5)
Morgens bekamen wir das Pfand für die für Plastikchips zurück und konnten weiterfahren. Wir kamen südlich an der Müritz vorbei und dann über Parchim und Crivitz doch noch nach Schwerin, das wir nun doch nicht weiträumig umfuhren. Es war aber nicht so schlimm, denn wir konnten die Umgehungsstraße benutzen und zumindest den Stadtverkehr vermeiden. Wir hatten aber kurz vorher einen Radfahrer getroffen, der uns einen Weg beschrieben hatte, wo wir auf einer asphaltierten autofreien Straße am Seeufer durch den Wald bis zum Schloß fahren konnten. Diesen Weg fuhren wir und hatte zumindest die halbe Stadt gespart und doch noch eine eindrucksvolle Fahrt direkt beim renovierten Schloß vorbei.
Die Ausfahrt war auch einfach und wir kamen am Abend nach Lützow. Das war ein kleiner Ort, wo wir übernachten konnten.
Tag 12: 2005-04-23 (6)
An diesem Tag mußten wir etwas aufpassen, denn wir hatten eine Reservierung für den Nachtzug von Hamburg nach Kiel und mußten unterwegs noch in Kiel vorbeikommen, um Heidrun und Christina abzuholen. Wir kamen sehr flott voran bis nach Ratzeburg. Bis Lübeck hätten wir wohl noch gut geschafft, aber bis Kiel wohl nicht mehr, schon gar nicht, wenn wir alle Fahrradverbote beachtet hätten, die man in Schleswig-Holstein in immer größerem Maße aufstellt. So fuhren wir mit dem Zug nach Lübeck, wo wir noch eine Weile waren.
Rückreise
Am späten nachmittag fuhren wir von Lübeck nach Kiel, waren da auch noch eine Weil und dann am Abend nach Hamburg und mit dem Nachtzug nach Schaffhausen.
Fazit
Es war eine schöne Tour, hoffentlich gelingt es mir, mit Ulrich, Heidrun und Christina eine ähnliche Fahrt zu machen.
Links
Die ungefähre Route sieht bei google-maps so aus: maps.google.de
Die Links habe ich schon beim Radtourenbericht 2003 gesammelt.