Baltikum
ESTLAND
Nach etwa 4 Stunden Fährfahrt erreichte ich am sonnigen Sonntagnachmittag Tallinn (ich war der einzige Radler an Bord). Im Tallinner Hafen habe ich mir das Visum besorgt; dazu mußte ich gleich mein Fahrrad samt Gepäck unbeaufsichtigt vor dem Abfertigungsgebäude stehen lassen (da habe ich doch etwas ums Rad und Gepäck gebangt - aber es ist nichts abhanden gekommen).
Mit dem 1:300'000er Stadtplan war die Orientierung in Tallinn (Reval) nicht ganz so einfach, aber trotzdem war ich nach einer Viertelstunde in der Tallinner Altstadt. Die war sehr schön erhalten. Sie gefiel mir besser als später die Altstädte von Riga und Vilnius (Wilna). Hier habe ich erstmal einen Reiseführer für das Baltikum für umgerechnet 7 DM erstanden, der sprachlich zwar ziemlich daneben war (z.B. Wort-für-Wort-Übersetzungen ohne Rücksicht auf Grammatik), aber sehr informativ (Innenstadtpläne und Hotels, Land und Leute).
Nach dreistündiger Altstadtberadelung habe ich mich auf dem Weg zum Campingplatz in Pirita gemacht. Es ging am Strand entlang (auf dem einzigen Radweg, den ich im Baltikum gesehen habe), von dort hatte man stellenweise einen guten Blick auf den Tallinner Hafen. In Pirita war der Segelregattahafen der Olympiade in Moskau 1980. Von dort waren es noch 3 km zum Campingplatz, an dem ich zuerst vorbeigeradelt bin, weil er nicht direkt als solcher erkennbar ist - er ist direkt unter dem Tallinner Fernsehturm (dem einzigen Punkt, von dem man in Estland bei gutem Wetter das finnische Festland sehen können soll - bzw. aus der Kanzel, in der das Galaxy Restaurant untergebracht ist). Der Campingplatz war recht klein (100 mal 200m) und mit vielen Hütten drauf. Im Westen von Tallinn soll es noch einen Campingplatz am Strand geben, aber der war auf meiner Karte nicht eingezeichnet. Für die sechs folgende Tage sollte das der einzige Ort bleiben, an dem ich heiß duschen konnte.
Hier war eine interessante Atmosphäre: die wenigen, die da waren, sprachen alle miteinander und tauschten ihre Erfahrungen und Informationen aus. So konnte ich auf meiner Karte auch noch einige Campingplätze nachtragen. Ein Paar aus Süddeutschland, das mit einen Bulli unterwegs war, war sogar auch dem Bernd, den ich in Helsinki auf dem Campingplatz getroffen hatte, auf der estnischen Insel Saaremaa begegnet. Kleine Welt hier. Hier ging es international zu: zwei Australierinnen, ein paar Finnen, ein Franzose, aber in der Mehrheit doch Deutsche.
Beim abendlichen Blick auf die Karte habe ich einen Schreck bekommen: ich dachte, die nächste Tagesetappe bis zum See Vörtsjärv läge bei 150 km, aber bei genauem Hinsehen habe ich festgestellt, daß sie bei 200 km liegt. Daher bin ich am nächsten Morgen früh aufgestanden und bereits um 9 Uhr losgeradelt. In Tallinn habe ich noch ein Marburger Paar getroffen, das gerade mit der Fähre aus Travemünde angekommen war und Richtung Narva in den Nationalpark radeln wollte.
Im Stadtzentrum waren alle Hauptstraßen gesperrt. Wahrscheinlich mußten wohl ein paar hochrangige Staatsmänner durch die Stadt gekurvt werden. Das war sehr gut, da hatte ich nämlich die leergefegten Straßen für mich allein (keine Autos, keine Straßenbahn, aber Radler durften). Nach einer halben Stunde war ich auf der Landstraße, die nach Rapla führte. Mir scheint, dies ist eine der wenig befahrensten Nord-Süd-Routen, die geteert sind. Die Straße war gut geteert und wies keine Schlaglöcher aber auch keine Fahrbahnmarkierungen auf. Der Fahrbahnrand war etwas arg ausgefranst (nicht gerade, variierte ständig um 20-50 cm). Nord- und Mittelestland stellten sich als flach wie Friesland heraus. Es war Hochsommerwetter und windstill. So schaffte ich die 68 km bis Rapla problemlos in 3½ Stunden. Hier habe ich mich in ein kleines Bistro gesetzt und mir 2 Stückchen Kuchen und eine Cola gegönnt.
Sofort sprach mich Urmas, der am Nachbartisch saß, an. Da er aber nur Estnisch konnte, war die Verständigung sehr schwierig. Mit Hilfe anderer konnte ich ihm dann klar machen, daß ich mit dem Rad aus Deutschland kam und daß ich, obwohl ich Deutscher bin, kein Bier trinke (da war er baff!). Kurz danach erschien Anu, die für die Lokalzeitung arbeitete und gleich einen Artikel schreiben wollte und mich dementsprechend ausfragte und dann auch noch einen Fotografen holte. Nach der etwas länger als geplant geratenen Pause habe ich mich wieder auf den Weg gemacht.
In Türi (50 km hinter Rapla) habe ich an einem Kiosk meinen Proviant wieder aufgefüllt. Dort wurde ein Getränk verkauft, das Kali hieß (sprich: Koli). Ein Glas davon kostete umgerechnet 6 Pfennige. Es schien aus gegärtem Getreidesaft hergestellt zu sein und schmeckte malzbierähnlich. Ein paar Kindern, die dort saßen, habe ich noch ein paar finnische Schoko-Riegel zukommen lassen und bin dann weitergedüst. Es ging weiter gen Süden - nach ca. 170 km erreichte ich Viljandi und habe mich dort wieder mit Verpflegung eingedeckt. Die letzten 25-30 km auf dieser längsten Tagesetappe (212 km) wurden auch noch hügelig; ein Storch trottete noch gemütlich vor mir über die Straße und der auf der Karte eingezeichnete Campingplatz Hooalaa schien nicht zu existieren. Glücklicherweise war auf der Karte noch ein Platz 6 km weiter eingezeichnet. Um zu diesen zu kommen, mußte ich einen sandigen, kleinen Weg benutzen - da konnte es einem schon mulmig werden aber nach ca. 1 km war ich da: Camping Vaibla.
Kurzum: der billigste Platz meiner Tour: 8 Kroni entspr. ca. 1 DM, aber mehr war er wohl auch nicht wert: Toiletten waren Löcher in der Erde, Duschen gab es nicht, heißes Wasser wurde auf einem Holzofen in der Sauna zubereitet. Baden im See ging auch nicht, da mir nach fast 100m im See das Wasser nur bis zu den Knien stand. Die Besitzer sprachen weder Englisch noch Deutsch. Außer mir war nur noch ein junges Paar aus Tallinn dort, mit denen ich abends gemeinsam am Lagerfeuer saß. Die Familie, denen der Campingplatz gehörte, wollten mir wohl eine Freude machen: in einer der Holzhütten machten sie Licht an, legten deutsche Kneipen-,Jecken- und Schlagermusik auf, tanzten dazu und krakeelten herum. Die beiden aus Tallinn sagten mir, daß die Besitzer es für mich machen würden und wohl darauf warteten, daß ich mitfeiere. Aber irgendwie gefiel es mir doch am Lagerfeuer besser. Am Morgen drauf war natürlich noch niemand wach und ich machte mich gleich auf den Weg. Ohne richtiges Frühstück (2 Müsli-Riegel) und den 212 km vom Vortag in den Beinen ergötzte ich mich nach etwa 30 km in Rongu an einem riesigen Stück Sahnecremekuchen und an einem Liter Milch (dazu noch eine Flasche Cola und ein paar Kekse für zusammen etwa 2 DM).
Hier im Süden Estlands war es leicht hügelig. Kurz nach Mittag erreichte ich die geteilte Stadt Valga/Valka an der estnisch/lettischen Grenze. Ich überquerte die Grenze auf einer relativ kleinen Straße mitten im Ort, die mit einer Schranke und reichlich Soldaten gesichert war. Die Esten stempelten wieder, die Letten wollten nicht.
LETTLAND
Zunächst wollte ich in Valka mein estnisches Geld in lettisches Geld umtauschen. Die Bank wurde gerade renoviert und man mußte ins Büro im ersten Stock durch eine Hintertür, dazu mußte ich also mein Rad alleine lassen. Aber auch hier wurde nichts geklaut. Derartige Bedenken braucht man wohl am helligten Tage in einer wohlbelebten Gegend im Baltikum nicht zu haben. Für meine 180 estnischen Kronen bekam ich ganze 6 lettische Lat. Statt die ausgezeichneten Preise durch 8 zu teilen, hieß es jetzt, sie mit 3 malzunehmen. In Valka gab es den zweiten Regenschauer meiner Tour, aber da ich eh gerade Rast machte, hat er mich nicht gestört. Über Strenči (Stackeln) fuhr ich durch ausgedehnte Nadelwälder nach Valmiera, einer Stadt, die für ihre Gehsportler bekannt ist. Etwa 30 km weiter lag der nächste Campingplatz am Unguri-See, der zwar keine Dusche, aber zumindest moderne Toiletten und Waschbecken hatte - Baden konnte man hier im See. Hier traf ich Dawn und Jane aus England, die mit einer 14 Jahre alten Ente hierhin gekommen waren. Aber sie hatten noch einiges vor sich, da sie noch nach St. Petersburg und nach Moskau wollten.
Am nächsten Morgen stellte ich fest, daß an meiner Hinterradfelge ein Speichenloch am Ausreißen war. Dawn und Jane meinten, ich solle mir Cesis und Sigulda ansehen, aber aufgrund der kaputten Felge entschied ich mich für die direkte Route nach Riga. Auf dieser Straße kam mir Rick aus Berkeley entgegen, mit dem ich erstmal ausgiebig plauderte. Er erzählte mir u.a. von Richard und Nicki, einem englischen Paar, die ebenfalls mit Fahrrädern unterwegs sind. Er hatte sie am Abend zuvor im Hotel in Riga getroffen. Und da das Baltikum so klein ist, war es kein Wunder, daß ich sie zwei später einholte.
30 km vor Riga wurde die Straße vierspurig und erinnerte stark an eine Autobahn. Da aber kein Fahrradverbotsschild zu sehen war, bin ich munter weitergeradelt. Auch einheimische Radler waren hier unterwegs. Nach Riga hinein wurde es ziemlich gefährlich, denn in Riga zierten tiefe Schlaglöcher die Straßen und Unmengen von Trailerbussen (Elektrobusse mit zwei langen als Elektroden dienenden Stäben am Heck) waren unterwegs. Die volle Konzentration wurde für diese zwei Gefahren, die beiden Seiten angriffen (vorne und hinten) benötigt. Zum Orientieren mußte ich jedesmal an die Seite fahren. Aber ich habe es heile bis ins Stadtzentrum geschafft. Verwundert haben mich die Rennräder, auf denen einige Geschickte oder Verrückte durch den Verkehr huschten.
Nach der obligatorischen Altstadtberadelung bin ich zu meiner Gastfamilie geradelt. Das Fahrrad kam dort gleich mit in die kleine Wohnung. Am nächsten Morgen bin ich mit Liga mit der Tram in die Innenstadt gefahren, um eine neue Felge zu besorgen. In der Nähe vom Hauptbahnhof gibt es ein paar brauchbare Fahrradgeschäfte. Auf dem Weg dorthin haben wir eine deutsche Radreisegruppe getroffen (vielleicht waren es die sechs Leipziger, von denen mir Richard und Nicki später erzählten). Eine Hohlkammerfelge konnte ich nicht bekommen, da habe ich dann eine Billigfelge genommen. Da mir noch nicht klar war, wie ich die Felge austauschen sollte (ich befürchtete, den Zahnkranz abnehmen zu müssen und die neue Felge vollkommen neu einspeichen zu müssen), beschloß ich mit der alten Felge weiterzufahren und die neue Felge als Ersatz mitzunehmen. Ich hatte die Hoffnung, die alte Felge würde noch bis nach Hause halten (später in Polen riß jedoch das zweite Speichenloch aus und wechselte dann dort die Felge). Nach einem weiteren Altstadtrundgang sind wir mit der Bahn nach Jurmala zum Strand an der Rigaer Bucht gefahren (25 km, 45 min eine Richtung und 5 0.Lat hin und zurück für uns beide). Auch in Jurmala war schönes Wetter, ein bißchen windig vielleicht. Obwohl vom Baden in der Bucht abgeraten wird, schwammen einige Leute im Wasser (ach wenn ich doch die Badehose mit zum Strand genommen hätte). In Jurmala gab es eine Promenade und das einzige von mir im Baltikum gesichtete Liegerad (Dreirad mit Frontlenkung).
Am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg nach Litauen. Kurz hinter Iecava (30 km südlich von Riga) traf ich Richard und Nicki (von denen mir Rick zwei Tage vorher erzählt hatte). Nicki hatte am Vortag einen Speichenbruch an ihrem Rad gehabt und da Richard für das Rad keinen passenden Zahnkranzabzieher dabeihatte, waren sie am Vortag von Iecava mit dem Bus zurück nach Riga zum Reparieren gefahren. Sonst hätte ich die beiden überhaupt nicht oder vielleicht erst in Polen getroffen (wie ich später erfuhr, als sie mich in Bad Lippspringe besuchten, 9-11.Sept.'94, haben sie in Polen fast die gleiche Route wie ich genommen). Es war nett mal mit anderen zusammen zu fahren. Bisher war ich ja nur mit Holger von Naantali nach Turku und mit Risto vier Stunden durch Helsinki geradelt.
In Bauska, den letzten größeren Ort im Süden Lettlands machten wir Mittagspause. Dort kaufte ich 8 Stückchen Kuchen für umgerechnet 80 Pfennig. Ca. 1 Stunde später erreichten wir die Grenze bei Salociai: die Letten wollten wieder nicht stempeln, dafür aber die Litauer. Die Geldwechselstuben waren zwischen den beiden Schranken im Niemandsland aufgestellt. Als wir durch beide Schranken durch waren, stellten wir fest, daß wir hier wohl kein Geld mehr tauschen können (Rick war es genauso ergangen und als er einfach zurück zur Geldwechselstube ging, haben die Grenzposten ihm Geld für ein zusätzliches Visum abgeknöpft).
LITAUEN
Zunächst machten wir Bekanntschaft mit dem Seitenstreifen der zu schmalen Hauptstraße von der Grenze über Pasvalys nach Panevezys. Die litauischen LKW- und PKW-Fahrer sind hier ziemlich rücksichtslos. Sie bleiben nicht hinter Radfahrern, wenn es Gegenverkehr gibt, nein, sie brettern ungebremst zwischendurch. Nur gut, daß der Seitenstreifen breit genug und einigermaßen befestigt ist - zum dauernden Befahren ist er aber zu unangenehm.
In Pasvalys haben wir entlang der Hauptstraße keine Möglichkeit zum Geldwechseln gefunden und so fuhren wir weiter nach Panevezys, wo wir gegen 20 Uhr eintrafen. Nach etwas Suchen fanden wir ein günstiges Hotel (12 DM pro Person), wo wir das Rad auch mit auf das Zimmer nehmen konnten. Aber das Personal sprach weder Englisch noch Deutsch und deutsches Geld wollten sie nicht nehmen. Zum Glück zeigte mir ein Einheimischer ein großes Hotel, in dem wir unser Geld tauschen konnten.
Spätabends sind wir noch in eine Bar gegangen, wo es aber nur noch ein Gericht gab. Am nächsten Morgen kochten Richard und Nicki Porridge. Gut gestärkt verließen wir Panevezys. Nach ca. 10 km trennten sich unsere Wege, da die Beiden auf dem kürzerem Weg über Kaunas nach Polen wollten, während ich mir noch Vilnius und Trakai anschauen wollte. Wir verabredeten, uns am darauffolgenden Tag im Grenzort Lazdijai um 17 Uhr wiederzutreffen.
Direkt hier begann eine Autobahn, die ich ohne Bedenken beradelte (in Riga ging es ja auch). Auch einige Polizei-Autos überholten mich dann und wann. Aber es schien hier wohl auch üblich zu sein. Nach etwas über der Hälfte der 140 km bis Vilnius traf ich die nächsten Reiseradler. Diesmal handelte es sich um drei Weißrussen, die das Baltikum beradelten. Einer von ihnen hatte gerade eine Panne. Sie waren sehr erstaunt, daß ich allein radelte. Da sie sich weder helfen lassen, noch Schokolade mitessen wollten, habe ich mich kurzerhand wieder auf den Weg gemacht.
Bis kurz vor Vilnius (Wilna) war die Strecke im Baltikum flach gewesen (mit Ausnahme von Viljandi - Vaibla) und da war ich ziemlich überrascht, daß es hier richtig hügelig wurde. Vilnius zeigte sich mir nicht gerade von der schönsten Seite. Es war ein abrupter Übergang von landwirtschaftlich genutzter Fläche zu einer Trabantenstadt, einer Betonwand aus Hochhäusern in desolatem Zustand. Die für baltische Hauptstädte typischen tiefen Schlaglöcher ließen nicht lange auf sich warten. Zum Stadtzentrum ging es einige Kilometer bergab und nach dem Überqueren der Neris (einem Zufluß der Nemunas (Memel)) war ich im Zentrum.
Dort umfuhr ich nichtsahnend in geschickter Weise die Altstadt, so daß ich von ihr kaum etwas sah. Am Bahnhof besorgte ich mir dann ein paar Postkarten und Briefmarken.
Dann machte ich mich auf auf den Weg nach Trakai, einem mittelalterlichen Schloß ca. 30 km westlich von Vilnius mit einem der wenigen litauischen Campingplätze. Der Weg dorthin war nicht einfach zu finden (Trakai war halt nicht ausgeschildert), so daß ich eine andere Route benutzte, als ich eigentlich vor hatte (über Lentvaris). Und ich nehme an, diese war wesentlich anstrengender als die geplante. Waren die 140 km nach Vilnius noch mit wenig Kraftanstrengung verbunden, so wurde es auf diesen letzten 40 km noch richtig mühsam.
Der Campingplatz entschädigte mich dafür mit der ersten heißen Dusche seit Tallinn. Außerdem traf ich mal wieder einige Radler: vier Hamburger Studenten (die mit der Fähre gekommen waren und nur durch Litauen radelten) und Christian aus Kopenhagen (der zuhause gestartet war und noch nach Tallinn wollte). Der Platz war mit umgerechnet etwa 8 DM recht teuer, bot dafür aber auch saubere Toiletten und wie gesagt eine heiße Dusche. Abends beim Essenkochen saßen wir noch lange gemütlich zusammen und tauschten unsere Erfahrungen aus. Am nächsten Morgen war es regnerisch. Kurz nach meiner Abfahrt setzte ein etwas stärkerer Dauerregen ein. Und es wurde verdammt hügelig. Aber das beide alleine ist ja halb so schlimm, wenn nicht zusätzlich ein starker Westwind mit Windstärken zwischen 4 und 6 geweht hätte. Nach einer Stunde erwischte ich mich dann auch bei der Frage, warum ich diese Quälerei überhaupt mache. Eine halbe Stunde später kam ich in Aukstadvaris an, es hörte auf zu regnen und ich konnte in einem Laden Verpflegung (trotz Sonntag) nachkaufen. Ausnahmsweise kaufte ich mal eine Getränkedose (ich sollte Markus ja eine Dose aus dem Baltikum mitbringen - er sammelt die Dinger nämlich). Diese Diät-Cola-Dose kam aus Toronto, Kanada. Und sowas mitten in der litauischen Provinz.
Hier habe ich meinen Plan aufgegeben, bis 17 Uhr Lazdijai zu erreichen, um Richard und Nicki wiederzutreffen. Es waren noch ca. 100 km und es waren nur noch 5 Stunden. Dafür traf ich eine Stunde später Ryan. Er kam mir entgegen. Ryan (aus Seattle, Arzt) war mit einer amerikanischen Reisegruppe unterwegs. Sie waren in Petersburg gestartet und wollten bis nach Vilnius. Da es diesen Morgen auch in Kaunas stark geregnet hatte, hatten sich seine Mitreisenden entschieden, mit der Bahn von Kaunas nach Vilnius zu fahren. Ryan hatte am Abend vorher in Kaunas Nicki getroffen (wie klein die Welt hier doch ist). Und Ryan berichtete mir von dem tollen Rückenwind an diesem Morgen, der ihn richtig die Berge hinaufschob. Schön für ihn (Grrrr.)
Nach weiteren 10 km erreichte ich den Abzweig gen Süden. Ab hier hatte ich statt Gegenwind jetzt starken Seitenwind. Aber ich war zu geschwächt, um es an diesen Tag ohne Überanstrengung nach Lazdijai zu schaffen. So entschied ich mich, in Alytus zu übernachten. Als ich dort ankam, schaute ich in meinen Reiseführer nach einem Hotel und mußte feststellen, daß ich gerade direkt vor einem Hotel stand. Für wiederum 12 DM kam ich unter. Das Fahrrad konnte ich hier in der Eingangshalle an einem Geländer abschließen.
Der weitere Weg zur Grenze erwies sich als ausgesprochen hügelig und ich fühlte mich in meiner Entscheidung vom Vortag, in Alytus zu übernachten, bestätigt. Gegen 12 Uhr erreichte ich die Grenze. Hier konnte ich mich einmal richtig an der litauischen Bürokratie ergötzen: vom ersten Zöllner erhielt ich einen Zettel, der nur in Litauisch bedruckt war, auf dem ich was Ausfüllen sollte. Nach 2 Minuten dumm rumstehen, nahm er ihn mir wieder aus der Hand, schrieb zwei Einsen drauf und stempelte ihn und schickte mich zur Schranke. Dort erhielt der Zettel den zweiten Stempel. An der nächsten Schranke Stempel drei und vier, an der nächsten Station Stempel fünf und sechs. An der letzten Schranke wurde ich überrascht: anstatt weitere Stempel auf das kleine Zettelchen zu hauen, zählte der dortige Zöllner eifrig die Stempel und ließ mich dann passieren. So beschäftigt man acht Leute. Nun kam die polnische Seite: ein freundliches, deutsches "Guten Morgen und gute Fahrt" und nicht mal ein Blick in den Reisepaß wollten sie werfen.